Weltbörsen: Der Luzifer-Moment

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 © ThePioneer

Guten Morgen,

der große Bruder der Corona-Panik ist der Crash-Prophet. Beide sind einander in masochistischer Innigkeit zugetan. Während der eine vor dem Virus zittert, spürt der andere wie die Erregung in ihm aufsteigt. Der eine fürchtet den Absturz, auf den der andere spekuliert. Das Gegenstück zum Hamsterkauf ist der Ausverkauf der Aktien. Gestern tanzten die beiden Hasardeure auf dem Vulkan, weshalb die Börsen ihren Luzifer-Moment erlebten:

► In New York wurde der Handel für 15 Minuten unterbrochen, damit sich die Gemüter der Investoren wieder beruhigen konnten.

► Zuvor waren Dow Jones, S&P 500 wie auch der Nasdaq um 7,8, 7,6 und 7,3 Prozent abgerutscht und bescherten der Wall Street den größten Kursverfall innerhalb eines Tages seit Dezember 2008. Erinnerungen an die Finanzkrise werden wach.

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► Auch der Dax stürzte weiter ab, schloss mit 10.625 Punkten fast acht Prozent unter Vortag und fiel zwischenzeitlich so extrem wie seit den Terroranschlägen vom 11. September 2001 nicht mehr.

► Am heutigen Morgen asiatischer Zeit sackte der Shanghai Composite Index um rund drei Prozent ab. Auch der Nikkei-Index in Tokio fiel zunächst um rund 1,5 Prozent, bevor er sich nach der Mittagspause erholte.

Die Börse, so sprechen die Crash-Propheten, nehme nur vorweg, was der Realwirtschaft erst noch drohe: Die Zündschnur führe von westlicher Kaufzurückhaltung und chinesischen Produktionsausfällen über faule Kredite und stornierte Gewinne zur Schieflage einiger Geldhäuser, die dann wiederum die Finanzindustrie in Gänze infizieren könnten. Eine Rezession, sagt der oberste Apokalyptiker der USA, Nouriel Roubini im Fernsehen, sei das Mindeste was zu erwarten sei.

Die OECD rechnet in einem Worst-Case-Szenario mit einer Halbierung des prognostizierten Wirtschaftswachstums. Das globale Bruttoinlandsprodukt könnte dann um nur noch 1,5 Prozent zulegen, was für Europa als wachstumsschwächste Region der Welt in der Tat eine Rezession bedeuten würde.

Doch es gibt keinen Automatismus von Corona und Crash. Es gibt im Gegenteil fünf gute Gründe, weshalb eine Weltwirtschaftskrise vermieden werden kann.

Erstens: Die Banken befinden sich weltweit in deutlich besserer Verfassung als vor der Finanzkrise 2008. Die Risikopuffer wurden erhöht, die Lust an der Spekulation gedämpft. Europas größte Banken stehen mit einer harten Eigenkapitalquote über 13 Prozent deutlich robuster da als im Jahr der Lehman-Pleite.

Eine Infografik mit dem Titel: Europas Geldhäuser sind gerüstet

Entwicklung der Kernkapitalquoten ausgewählter Banken, in Prozent

Zweitens: Die Realwirtschaft durchlebt eine digitale Transformation, was die Investitionstätigkeit erhöht, die Geschäftsaussichten beflügelt und insgesamt die wirtschaftliche Dynamik stimuliert. Die digitale Revolution ist keine spekulative Blase, sondern eine globale Notwendigkeit. Facebook, Amazon, Alphabet, Apple und Microsoft bestreiten inzwischen 20 Prozent der Marktkapitalisierung im S&P 500.

Drittens: Das billige Öl – in dieser Woche gaben die Preise um zwischenzeitlich mehr als 30 Prozent nach – spielt den traditionellen Chemie-, Pharma-, Automobil-, Maschinenbau- und Stahlkonzernen in die Karten. Ihre Stückkosten fallen. Der Nachfrageausfall aus China kann so zumindest abgefedert werden.

Eine Infografik mit dem Titel: Der "schwarze Montag"

Preisentwicklung für Ölsorten Brent und WTI, in Prozent

Viertens: Die Lokomotiven der Weltwirtschaft präsentieren sich in vitalem Zustand. Apple erwirtschaftete 2019 einen 55-Milliarden-Dollar-Gewinn, Google-Mutter Alphabet meldete einen Profit von 34 Milliarden Dollar, Microsoft 39 Milliarden Dollar und auch die weltweite Autoindustrie erwirtschaftete – trotz des Umbaus von Verbrennungsmotor auf Elektroantrieb – Milliardengewinne.

In den ersten drei Quartalen 2019 kamen die fünf gewinnstärksten Autobauer auf ein Ergebnis von 45 Milliarden Euro. Hersteller wie BMW, Volkswagen oder Toyota erzielen Ebit-Margen von 6,8, 7,3 und 8,4 Prozent. Hier liegen die Puffer, die dabei helfen können, den teils drastischen Umsatzrückgang in China abzufedern.

Fünftens: Die Notenbanken in Washington, Tokio, Peking und Frankfurt stehen bereit, die krisenhaften Monate mit billigem Geld zu begleiten. Eine Kettenreaktion, die vom Konkurs einer Firma über den „credit crunch“ zu einer Welle von Bankenpleiten führt, ist nicht ausgeschlossen, aber derzeit eher unwahrscheinlich. Nach der Zinssenkung in den USA wartet nun die EZB auf ihren Einsatz. Mit einer weiteren Geldspritze sollen die europäischen Volkswirtschaften gegen den Corona-Schock immunisiert werden.

Jetzt braucht es nur noch eine politische Elite, die den verunsicherten Bürgern Vertrauen einflößt. Wer es zulässt, dass aus einer milden Grippe in der öffentlichen Wahrnehmung der Angriff von Killerviren wird, kann damit alles lostreten, auch eine Massenpsychose.

Die Kunst des Gegensteuerns und der Beruhigung ist gefragt. Und die Kaltblütigkeit eines Helmut Schmidt. Der pflegte in solchen Situationen zu sagen:

Wenn anderen heiß wird, werd’ ich kalt. Wenn andere kalt werden, werd’ ich eiskalt.

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Apropos Helmut Schmidt: Wo steckt eigentlich Angela Merkel?

Hier der morgendliche Rapport von der Corona-Front:

► Die Zahl der nachgewiesenen Infektionen mit dem Virus ist in Deutschland auf 1139 gestiegen. Das geht aus der Auflistung des Robert-Koch-Instituts hervor . Am stärksten betroffen ist demnach weiterhin Nordrhein-Westfalen, dort vor allem der Kreis Heinsberg.

► Im Kampf gegen das Virus sieht der Chef des Weltärztebundes Deutschland aktuell gut aufgestellt. „Das deutsche Gesundheitswesen ist hervorragend ausgerichtet“, sagte Frank Ulrich Montgomery. „Wir kriegen das hin!“

► Erstmals sind in Deutschland zwei Menschen nach Erkrankungen mit dem Coronavirus gestorben. Beide Todesfälle wurden am Montag in Nordrhein-Westfalen bekannt gegeben. Das erste Todesopfer ist eine 89-jährige Frau aus Essen, bei dem zweiten Todesopfer handelt es sich um einen 78-jährigen Mann aus Gangelt im Kreis Heinsberg.

► Gesundheitsminister Jens Spahn bereitet alle Bürger auf längere Einschränkungen im Alltagsleben vor. Er sagt:

Wir reden deutlich über mehrere Monate als über mehrere Wochen. Wir müssen den Ausbruch verlangsamen, damit unser Gesundheitssystem weiter funktionieren kann. Dazu brauchen wir die gesamte Gesellschaft. Wir brauchen jeden einzelnen Bürger.

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Im Spahn-Team wird wohlwollend registriert, dass das Krisenmanagement des Ministers vom Wähler goutiert wird. Schon versucht der Mann, der auf dem kommenden CDU-Parteitag eine Schlüsselrolle spielen möchte, daraus eine politische Kampagne zu entwickeln. In der heutigen „Bild“-Zeitung wirbt er für ein neues Wir-Gefühl:

Unser Umgang miteinander war in jüngster Zeit zu oft von Wut und Misstrauen geprägt. ... Ich bin sicher: Wir werden diese Situation bewältigen. Es geht. Und am besten geht es gemeinsam.

Professor Jochen Werner, Ärztlicher Direktor und Vorstandsvorsitzender des Universitätsklinikums Essen, gilt als Vorreiter für eine digitale Revolution in der Medizin – und einen kritischen Blick auf die aktuelle Hysterie hat er sich auch bewahrt. Im Morning Briefing Podcast sagt er:

Im Moment ist die Angst vor dem Coronavirus gefährlicher als das Virus selbst.

Werner sieht das Coronavirus auch als Chance, die Digitalisierung im Gesundheitswesen voranzutreiben:

Wir spüren jetzt, dass die Datenflüsse, die wir einfach dringend brauchen, noch nicht gegeben sind.

Es läuft immer noch sehr viel über Fax und schriftliche Aufzeichnungen. Es ist eine Riesenaufgabe, das zu ändern. Die Notwendigkeit ist jetzt offensichtlich geworden.

Werner sagt, der Datenschutz in Deutschland töte:

Jemand soll von der einen Institution in eine andere verlegt werden. Wenn es an einem nicht übermittelten Fax scheitert, dass die Behandlung adäquat fortgesetzt wird, dann ist es natürlich so, dass jemand davon gesundheitlichen Schaden nehmen kann – auch bis zum Tod.

Die italienische Regierung weitet derweil Sperrungen und Einschränkungen der Bewegungsfreiheit auf das ganze Land aus. Regierungschef Giuseppe Conte sagte am Montagabend:

Unsere Gewohnheiten müssen sich ändern, jetzt. Wir alle müssen etwas aufgeben für das Wohl Italiens.

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Der WHO zufolge sind bereits über 360 Personen in Italien an den Folgen des Coronavirus gestorben, über 7000 Personen haben sich mit dem Virus infiziert. Schulen und Universitäten bleiben vorerst geschlossen. In keinem anderen europäischen Land gibt es mehr Infizierte.

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Deutschland will geflüchtete Kinder aufnehmen, die derzeit in Lagern auf griechischen Inseln ausharren. Das ist eines der Ergebnisse des Koalitionsausschusses. Bei den Flüchtlingen handelt es sich laut einer gemeinsamen Erklärung von CDU und SPD um 1000 bis 1500 Kinder, die wegen einer schweren Erkrankung dringend behandlungsbedürftig oder unbegleitet und jünger als 14 Jahre alt sind.

Doch die Spitzen der Koalition knüpfen das Hilfsangebot an eine Bedingung: Andere europäische Länder müssen sich an einer sogenannten „Koalition der Willigen“ beteiligen, also ihren Teil der Flüchtlinge aufnehmen. Ein neuer Poker um die Flüchtlingszuteilung in Europa hat begonnen.

In dieser Woche wird eine neue Folge des Media-Pioneer-Original „Die Überstunde“ veröffentlicht – mit den Gastgebern Marina Weisband und Michael Bröcker. Es gilt das Motto: Eine Stunde. Ein Gast. Ein Thema.

Janina Kugel, ehemalige Siemens-Personalvorständin.  © Marco Urban

Dieses Mal ist Janina Kugel im Studio. Die ehemalige Personalvorständin von Siemens, dort verantwortlich für 385.000 Beschäftigte, weiß wie man Menschen führt und inspiriert. Das Thema ihres Lebens lautet: Unabhängigkeit. Sie teilte es mit den Live-Gästen; heute erscheinen Auszüge des Gesprächs im Morning Briefing Podcast.

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Am Donnerstag hören Sie mehr: In den Podcast-Mediatheken von Apple, Spotify und Co., in der App „Steingarts Morning Briefing“ oder direkt auf www.überstunde.com.

Die Benimm-Fibeln aller Herren Länder müssen nun neu verfasst werden. Das Händeschütteln, bisher ein unverzichtbarer Akt bürgerlicher Anständigkeit, kommt aus der Mode.

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Als Prinz Harry und seine Frau Meghan gemeinsam mit Königin Elisabeth II. an einem Gottesdienst in Westminster teilnahmen, konnte man es erleben: Aus Angst vor dem Virus begrüßten die Royals einander ohne Körperkontakt. Die menschlichen Beziehungen passen sich damit weiter dem iPhone an: Alles läuft über Spracherkennung.

Ich wünsche Ihnen einen Tag der Gelassenheit, trotz alledem. Es grüßt Sie herzlichst Ihr

Pioneer Editor, Herausgeber The Pioneer
  1. , Pioneer Editor, Herausgeber The Pioneer

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