Wirecard ohne Journalismus

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Guten Morgen,

alles darf man in Deutschland lustvoll in Frage stellen – die Klugheit der Regierung, die Sinnhaftigkeit der Ehe, die Prinzipien der Leistungsgesellschaft und die Moral der Wirtschaftsbosse sowieso. Nur die Chefredakteure der großen Traditionsmedien sind von einer kritischen oder gar spöttischen Betrachtung dringend auszunehmen. Selbst so charmante ältere Herren wie Giovanni di Lorenzo können dann böse bis bösartig werden.

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Untereinander, das besagt nun mal der ungeschriebene Common, wird wie im Schimpansenrudel Fellpflege betrieben, aber auf keinen Fall Selbstkritik geübt. Gemeinsam hockt man im Glashaus und achtet darauf, dass niemand auch nur einen Kieselstein in die Hand nimmt. „An dieser Tür endet die Demokratie“, soll schon am Chefredakteurszimmer von Karl Marx gestanden haben, als dieser die Redaktion der Neuen Rheinischen Zeitung führte.

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Womit wir beim medialen Umgang mit der Hochstaplerfirma Wirecard wären. Ausgerechnet der wuchtigste Wirtschaftsskandal der Gegenwart – bei dem sich unter den schläfrigen Augen der Börsenaufsicht rund 20 Milliarden Euro in Luft aufgelöst haben – ist den großen Wirtschaftsredaktionen des Landes durchgerutscht.

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Der kometenhafte Aufstieg von Wirecard-Chef Markus Braun findet sich in allen Blättern des Landes einfühlsam beschrieben und ehrfürchtig gewürdigt. Der Wirecard-Chef wurde in einer Zeitung, die extra für kluge Köpfe verlegt wird, mit Amazon-Gründer Jeff Bezos verglichen und seine Bilanz in einer anderen Zeitung, die sich viel auf ihre ökonomische Substanz zugutehält, wie folgt beschrieben:

Die wesentlichen Bilanzkennzahlen bei Wirecard überzeugen.

Mit diesem Finanzdienstleister werde „ein bilanzstarkes Institut in den Dax aufsteigen“.

Hart recherchiert und schonungslos enthüllt wurde auch – aber leider nur in London. Die 4. Gewalt in Deutschland – da hilft kein Beschönigen mehr – hat mindestens genauso versagt wie alle anderen Gewalten davor und danach. Dies denkt und schreibt jemand, der sich als ehemaliger Spiegel-Wirtschaftschef und späterer Handelsblatt-Herausgeber schon beim Verfassen dieser Zeilen an die eigene Nase fasst. Aber die ursprüngliche Schuld – das gemeinsame Verpennen dieser Affäre – wird durch den Versuch ihrer kollektiven Beschönigung nur vergrößert. Deshalb sollten wir es lassen.

Das Publikum hat die Posse ohnehin längst durchschaut. Wenn wir Journalisten im Fernsehen und in den Zeitungen nun mit Besserwisser-Finger auf Finanzstaatssekretär Jörg Kukies und Bafin-Chef Felix Hufeld zeigen, dann zeigen vier Finger auf uns selbst. Wir waren nicht „Fehlergucker“ (Stefan Aust), sondern Schlafende unter Schläfrigen.

Vielleicht sollten wir als Zeichen der Demut wenigstens in diesem Jahr darauf verzichten, uns gegenseitig in die „Hall of Fame“ einzuweisen, um uns dort mit Preisen zu behängen. Der „Journalist des Jahres“ wäre ausnahmsweise mal kein Mensch, sondern eine Leerstelle.

Als bessere Menschen können wir uns dann im Folgejahr wieder feiern. Woody Allen weiß, warum auch das wichtig ist: „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein. Irgendwann braucht er einen Drink.“

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Die Erschließung des roten Planeten ist keine Fiktionalität mehr. Nachdem die Arabischen Emirate am Montagmorgen eine Sonde namens „Al-Amal“ zu einer siebenmonatigen Reise gen Mars geschickt haben, ziehen nun die Chinesen nach.

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Eine Trägerrakete namens „Langer Marsch 5“, die größte über die China verfügt, hob am Donnerstagmittag von der Inselprovinz Hainan ab. Die Sonde soll den Mars zunächst etwa zweieinhalb Monate lang umkreisen und nach einer Gelegenheit suchen, in seine Atmosphäre einzutreten. Die Volksrepublik strebt damit eine Führungsrolle in der Raumfahrt an. Es gilt das Motto: Wenn wir Amerika schon nicht auf Erden schlagen können, werden wir wenigstens Trump auf dem Mars ärgern.

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Wie tickt die deutsche Jugend? Mit dieser Fragen beschäftigt sich die Sinus-Jugendstudie, die das Heidelberger Institut für Markt- und Sozialforschung alle vier Jahre veröffentlicht. Das jüngste Ergebnis:

► Die Grundeinstellung der 14- bis 17-Jährigen unterscheidet sich deutlich von der Spaßgesellschaft: Die hedonistische Mentalität sei auf dem Rückzug, Leistung und Selbstverantwortung auf dem Vormarsch.

► Aber Vorsicht: Leistung wird anders definiert, als man es bei McKinsey vermuten würde. Ein sicheres Einkommen und stabile Lebensverhältnisse sind den Jugendlichen wichtiger als Status, Erfolg und Aufstieg.

Eine Infografik mit dem Titel: Die Teenager sind pragmatisch

Werte der Jugendlichen (U18) im Jahr 2020

► Der jugendliche Zeitgeist sei, so das Resümee der Forscher, „grün und bewahrend“. Die Lösung der Klimakrise gelte als die zentrale Frage der Generationengerechtigkeit.

Fazit: Damit dürften sich die Architekten von Schwarz-Grün in ihren Planungen für die Zeit nach der Bundestagswahl ermuntert fühlen. Der Trend ist ihr Freund.

Bei der Suche nach einem geeigneten Kanzlerkandidaten gibt es Bewegung, zumindest in den Reihen der SPD. Die ganze Geschichte lesen Sie im Hauptstadt-Newsletter von meinen Kollegen Michael Bröcker und Gordon Repinski auf ThePioneer.

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Erstens. Die EU-Kommission präsentiert heute ihre Strategie für eine sogenannte Sicherheitsunion. Dahinter verbirgt sich das Bestreben, die Organisierte Kriminalität besser in den Griff zu bekommen. Bisher erweist sich die Kriminalität der Clans als großes Wachstumsfeld in Europa.

Zweitens. Mit Spannung werden heute die Zahlen von American Express für das zweite Quartal erwartet. Im ersten Quartal war das Ergebnis um 76 Prozent eingebrochen. Jetzt hofft man auf eine nachweisbare Rückkehr amerikanischer Konsumlust.

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Drittens. Zum zweiten Mal innerhalb von drei Tagen beraten die Gesundheitsminister von Bund und Ländern heute über Urlaubsrückkehrer in Corona-Zeiten. Es geht um Testzentren an Flughäfen – und um die unbequeme Frage, wer, wann, wie in Quarantäne muss.

Viertens. Um 21.30 Uhr sticht ab Hamburg das erste Kreuzfahrtschiff seit Ausbruch der Corona-Krise in See. Die „Mein Schiff 2“ startet mit rund 60 Prozent Auslastung (Normale Kapazität: 2900 Passagiere) zu einem dreitägigen Rundtrip in die Nordsee. Nach langer Touristenpause dürfte auf den Seehundbänken Getuschel entstehen.

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Fünftens. Deutschlands Gastronomieszene trauert mit Sarah Wiener. Die Sterneköchin, die seit 2019 für die österreichischen Grünen im Europaparlament sitzt, musste für ihre Restaurants und den Catering-Service Insolvenz anmelden. Auf Facebook schreibt sie:

Hoffen wir, dass viele, viele Hotel- und Gastronomiekolleg*innen durchhalten können und Licht am Ende des Tunnels sehen. Wir konnten es nicht mehr.

Ich wünsche Ihnen trotz mancherlei Widrigkeiten einen schwungvollen Start in das Wochenende. Am Montagmorgen hören wir uns – wenn Sie mögen – auch wieder im Morning Briefing Podcast. Bleiben Sie mir gewogen. Es grüßt Sie herzlichst Ihr

Pioneer Editor, Herausgeber The Pioneer
  1. , Pioneer Editor, Herausgeber The Pioneer

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