Wirecard: systemisches Versagen

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Guten Morgen,

wer Jörg Kukies kennt, der weiß, dass den Mann nichts so schnell aus der Ruhe bringt. Der ehemalige Juso-Vorsitzende von Rheinland-Pfalz, der es im Berufsleben an die Spitze der deutschen Filiale der US-Investmentbank Goldman Sachs brachte, wo ihn Olaf Scholz schließlich für sein Finanzministerium akquirierte, hat in seinem Berufsleben alles gesehen und erlebt: das Platzen der Dotcom-Blase, die Pleite des Bankhauses Lehman, die Weltfinanzkrise und die Griechenland-Rettung, die in Wahrheit eine Euro-Rettung war.

 © ThePioneer

Aber der Insolvenzantrag eines Dax-Konzerns unter den Augen der staatlichen Finanzaufsicht ist auch für ihn eine Premiere. Als der Finanzstaatssekretär gestern die Pioneer One besuchte, sagte er:

Wir müssen völlig schonungslos hinterfragen, was da schiefgelaufen ist. Natürlich in dem Unternehmen. Welche kriminelle Energie gab es bei diesem Thema? Bei den Wirtschaftsprüfern? Bei den Aufsehern über die Wirtschaftsprüfer? Bei der Finanzaufsicht? Das muss alles schonungslos zur Diskussion gestellt werden.

Der Vorgang birgt in der Tat Sprengstoff, von dem unklar ist, unter welchem Schreibtisch er detonieren wird.

Luftbuchungen in Höhe von fast zwei Milliarden Euro haben Wirecard in die drohende Zahlungsunfähigkeit getrieben. Am Freitag war Vorstandschef Markus Braun zurückgetreten, er kam für eine Nacht in Untersuchungshaft, wurde am Dienstag aber gegen Kaution von fünf Millionen Euro wieder auf freien Fuß gesetzt. Aufsichtsratschef Thomas Eichelmann ist weiter im Amt.

► Auf die Wirtschaftsprüfer der Firma EY dürften zahlreiche Klagen von Investoren zukommen. Der Vorwurf liegt auf der Hand: Wie konnte EY, immerhin seit elf Jahren Abschlussprüfer des Konzerns, nicht bemerken, was sich bei Wirecard anbahnte?

Eine Infografik mit dem Titel: Wirecard am Abgrund

Aktienkurs, in Euro

► Aus Kreisen der kreditgebenden Banken – vorneweg die Commerzbank und die Landesbank Baden-Württemberg, die von Ex-Deutsch-Banker Rainer Neske geführt wird – hatte man bis zuletzt von konstruktiven Gesprächen berichtet und damit gerechnet, eine Einigung über die Fortführung der Kredite zu erzielen. Der Insolvenzantrag hat die Banker kalt erwischt. Die Kredite dürften sie bald abschreiben. Diese Banker haben nicht hin, sondern weggeschaut. Auch hier haben die Beteiligten Gesicht und Adresse.

Tim Albrecht ist der Top-Fondsmanager der DWS. In seinem „DWS Deutschland“-Fonds waren noch vor Kurzem zehn Prozent des angelegten Kapitals in Wirecard investiert. Ein Klumpenrisiko, an dem der Mann selbst dann festhielt als die „Finacial Times“ über Dubiositäten dutzendfach berichtet hatte. Nur allmählich reduzierte er die riskante Position und hielt zum Schluss noch immer knapp fünf Prozent seines ihm anvertrauten Anlegergeldes in Wirecard-Aktien. Freiwillig stellte er seinen Jahresbonus gegenüber der DWS-Führung zur Disposition. Die Frage, die sein Vorgesetzter Asoka Wöhrmann, CEO der DWS, beantworten muss, lautet: Reicht das?

 © dpa

► Auch die Finanzaufsicht Bafin, vom Gesetzgeber verpflichtet, die „Marktintegrität“ herzustellen, muss sich unbequeme Fragen stellen lassen, denn sie hatte die Wirecard-Holding nicht als Finanzinstitut eingestuft. Im Jahr 2017, als diese Einstufung erfolgte, mag das gerechtfertigt gewesen sein. Aber spätestens ab Sommer 2019, so auch die behördeninterne Einschätzung, hätte eine Umgruppierung und damit eine strenge Überwachung erfolgen müssen.

Der Prozess für diese Neubewertung der Wirecard-Holding war unterwegs, aber eben im Schneckentempo des öffentlichen Dienstes. Bis heute ist dieser Vorgang nicht abgeschlossen, was kein gutes Licht auf die Agilität der Aufseher wirft.

 © dpa

► Bafin-Chef Felix Hufeld hat womöglich zu sehr auf den Dienstweg vertraut. Obwohl er für die Finanzszene in Deutschland zuständig ist und im Prinzip alle Vorstände einbestellen oder zumindest treffen kann, hat er sich für Wirecard nur aus den Augenwinkeln interessiert. Den langjährigen Wirecard-Boss Braun hat er offiziell nie getroffen.

► In der Öffentlichkeit noch völlig unberücksichtigt ist die Rolle der DPR, der Deutschen Prüfstelle für Rechnungslegung, die im Juli 2005 ihre Arbeit aufnahm. Die Organisation mit Sitz in Berlin wird vom Ex-Finanzvorstand der RWE, Rolf Pohlig geführt , und gilt als „Bilanzpolizei“. Sie ist für die Kontrolle der Kontrolleure zuständig, hätte also das Treiben der Ernst-Young-Wirtschaftsprüfer unter die Lupe nehmen müssen. Entweder aus eigenem Antrieb, nachdem die „Financial Times“ über Ungereimtheiten berichtet hatte, oder auf Antrag der Bafin.

► Diese Anträge der Bafin gibt es tatsächlich. Drei Mal hat die Finanzaufsicht die DPR aufgefordert, aktiv zu werden und die Bilanzen von Wirecard zu überprüfen: Zunächst ging es um die Halbjahresbilanz von Wirecard von 2018, dann um die Gesamtjahresbilanz 2018 und schließlich um die Halbjahresbilanz 2019. Die Exekutivdirektorin der Wertpapieraufsicht bei der Bafin, Elisabeth Roegele, kündigte im Mai an, das sich die DPR mit der Wirecard-Bilanz beschäftigen müsse: „Das liegt auf der Hand.“ Allerdings: Diese Überprüfungen wurden nie abgeschlossen und bei der Bafin vorgelegt. Die DPR ließ es schleifen – und die Bafin ließ sie offenbar gewähren.

 © dpa

► Und auch Kukies selbst, der für die Bafin im Geschäftsverteilungsplan des Ministeriums zuständig ist, muss sich ungemütliche Fragen stellen lassen: Hat er wirklich alles getan, um Wirecard überprüfen zu lassen und somit die Anleger zu schützen? Immerhin: Bafin-Chef Hufeld räumte nach Bekanntwerden des Schwindels unverzüglich ein, dass die Sache nicht rund gelaufen sei – auch nicht innerhalb seiner Behörde. Beim Frankfurt Finance Summit sagte er:

Das ist ein komplettes Desaster, das wir da sehen, und es ist eine Schande, dass so etwas passiert ist.

Wir befinden uns mitten in der entsetzlichsten Situation, in der ich jemals einen Dax-Konzern gesehen habe.

Wir sind nicht effektiv genug gewesen, um zu verhindern, dass so etwas passiert.

Fazit: Wir haben es mit einem systemischen Versagen an der Nahtstelle von Staat und Finanzgewerbe zu tun. Der Finanzminister, der Deutsche Bundestag – dessen Finanzausschuss sich am Mittwoch mit dem Skandal befasst – und die Staatsanwaltschaft sind zur Aufklärung verpflichtet. Verantwortlichkeit muss nicht nur festgestellt, sondern auch wahrgenommen werden. Alles andere hätte auch systemische Folgen – für das Vertrauen in Rechtsstaat und Demokratie. Oder um es mit dem französischen Dramatiker Molière zu sagen:

Wir sind nicht nur verantwortlich für das, was wir tun, sondern auch für das, was wir nicht tun.

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Keine Berufsgruppe arbeitet fehlerfrei. Wenn Ärzte sich irren, sind die Folgen allerdings besonders gravierend. Und das tun sie zunehmend öfter.

► Insgesamt erhielten die gesetzlichen Krankenkassen im vergangenen Jahr mehr Patientenbeschwerden über mögliche Behandlungsfehler. Die Gutachter des Medizinischen Dienstes der deutschen Krankenversicherer (MDK) prüften demnach 14.553 solcher Vorwürfe, das waren rund 400 mehr als 2018.

► In jedem vierten Gutachten konnten die Prüfer einen Fehler nachweisen. In 2953 Fällen bestätigten Gutachter zudem, dass dem Patienten durch den Behandlungsfehler ein Schaden entstanden ist. Im Vergleich zur vergangenen Statistik ist das ein Zuwachs von rund sechs Prozent.

► Wie in den Vorjahren betrafen die meisten Fehlervorwürfe mit 32,1 Prozent die Orthopädie und Unfallchirurgie, 11,1 Prozent die Innere Medizin und Allgemeinmedizin, 9,4 Prozent die Allgemeinchirurgie und jeweils etwas mehr als acht Prozent die Zahnmedizin und die Frauenheilkunde.

► In 128 Fällen kam es zu sogenannten Never Events, also Fehlern, die unter keinen Umständen vorkommen dürfen.

► In 22 Fällen wurden bei einer Operation Fremdkörper im Patienten zurückgelassen.

► 16 Mal wurde das falsche Körperteil operiert.

Der leitende Arzt des MDK Stefan Gronemeyer sagt: „Wir sehen nur die Spitze des Eisberges.“ Vielleicht sollte sich Gesundheitsminister Jens Spahn, bevor er sich in den CDU-internen Machtkampf wirft, noch schnell um die Fehleranfälligkeit des medizinischen Regelbetriebs kümmern.

Eine Infografik mit dem Titel: Wenn Ärzte Fehler machen

Verteilung von Patienten angezeigte Behandlungsfehler vs. vom MDK festgestellte Fehler, in 2019

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► Die Digitalisierung kann die Gesundheitsversorgung verbessern. Details zur elektronischen Patientenakte.

► Für die meisten Entscheidungen in der EU bedarf es eines Konsens aller 27 Mitgliedsländer. Das soll sich jetzt ändern. Ausgerechnet Deutschland will auf seine Vetomacht verzichten. Warum?

Nach dem Corona-Ausbruch beim Branchenriesen Tönnies steht nicht nur das Unternehmen unter Druck, sondern auch die gesamte Schlachtindustrie.

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Bundesagrarministerin Julia Klöckner will eine „Neujustierung“ der Tierhaltung. Fleisch und Wurst seien oft zu billig, sagte Klöckner im Interview mit meinem Kollegen Michael Bröcker für den Morning Briefing Podcast. Unter diesen Bedingungen seien faire Arbeitsbedingungen und Löhne, hohe Tierwohlstandards und ein auskömmliches Einkommen von Tierhaltern schwer zu erreichen.

Klöckner will daher Fleisch verteuern und mit einer Tierwohl-Abgabe pro Kilogramm Milliarden-Investitionen in tierfreundlichere Ställe ermöglichen. Im Morning Briefing Podcast sagt die CDU-Politikerin:

Für den Umbau unserer Tierhaltung müssen wir richtig Geld in die Hand nehmen.

 © dpa

Nach ihren Vorstellungen sollen Fleisch und Wurst 40 Cent pro Kilogramm teurer werden.

Das sollten uns mehr Tierwohl und anständige Arbeitsbedingungen auch wert sein.

Das Bundesagrarministerium rechnet damit, dass die Abgabe zunächst 1,5 Milliarden Euro pro Jahr erbringen könnte. Bioprodukte bleiben von der Abgabe ausgenommen.

Die Worte Bayer und Glyphosat sollen nicht mehr in einem Atemzug genannt werden. Zwei Jahre nach der 63 Milliarden Dollar teuren Übernahme des US-Konzerns Monsanto nimmt Bayer rund elf Milliarden Dollar in die Hand, um den Großteil der Rechtsstreitigkeiten beizulegen. Wir haben gestern darüber berichtet.

Eine Infografik mit dem Titel: Bayers teurer Befreiungsschlag

Aktienkurs, in Euro

An der Börse blieben die Sektflaschen trotz der für Anleger frohen Kunde geschlossen. Der Aktienkurs rutschte im Tagesverlauf ins Minus und gab alle durch die Einigung erzielten Gewinne sogar wieder ab. Das spricht nicht gegen die Einigung, wohl aber für die Schlitzohrigkeit der Börsianer. Sie hatten den Kuhhandel – Geld gegen Krebsverdacht – längst eingepreist. Sie wissen: Alles kann man im amerikanischen Kapitalismus kaufen. Auch seine Kritiker.

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Die Lufthansa darf mit deutscher Staatshilfe weiterfliegen. Die Aktionäre des neuerdings im MDax gelisteten Konzerns stimmten gestern bei einer außerordentlichen Hauptversammlung einer 20-prozentigen Kapitalbeteiligung des Staates zu – und zwar mit einer deutlichen Mehrheit von 98 Prozent des anwesenden Kapitals. Die damit verbundene Geldspritze von neun Milliarden Euro kann nun gesetzt werden. Im Ringen um das Rettungspaket hatte die Lufthansa-Spitze um Konzernchef Carsten Spohr den Druck auf die Aktionäre noch einmal erhöht. Aufsichtsratschef Karl-Ludwig Kley sagte gestern auf der im Internet übertragenen Hauptversammlung in kaum zu überbietender Direktheit:

Wir haben kein Geld mehr.

Der Logik der leeren Kasse hatte sich schließlich auch Heinz Hermann Thiele gebeugt. Zwar hätte sein Vermögen von rund 16 Milliarden Dollar – eine Schätzung der Nachrichtenagentur Bloomberg – zur Übernahme der Lufthansa ausgereicht. Aber die laufenden Kosten einer noch immer weitgehend am Boden befindlichen Airline hätten auch ihn überfordert. Der Investor Thiele will schließlich sein Vermögen steigern, nicht nur den Blutdruck.

Eine Infografik mit dem Titel: Lufthansa: Anleger bleiben skeptisch

Aktienkurs, in Euro

Jürgen Klopp geht in die Geschichte des FC Liverpool ein. Der 53-Jährige gewann mit seinem Team erstmals seit 30 Jahren die Fußball-Meisterschaft und beendete damit die lange Wartezeit des Traditionsklubs aus der Arbeiterstadt im Nordwesten Englands.

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Klopp ist der erste deutsche Coach, dem das im Mutterland des Fußballs gelingt. Im Interview beim britischen Sender Sky sagte er:

Das ist ein unglaublicher Moment. Ich bin total überwältigt.

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Für den Triumph sorgte der nun entthronte Titelverteidiger Manchester City. Weil das Team von Trainer Pep Guardiola am Donnerstagabend beim FC Chelsea verlor, holte Liverpool den Meistertitel ohne einen Tropfen Schweiß. Klopp und sein Team verfolgten das Spiel vor dem Fernseher. Für sie war es ein Sieg ohne Kampf.

Ich wünsche Ihnen einen heiteren Start in diesen neuen Tag und ein Wochenende der Gelassenheit. Es grüßt Sie herzlichst Ihr

Pioneer Editor, Herausgeber The Pioneer
  1. , Pioneer Editor, Herausgeber The Pioneer

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