Wolfgang Schäuble im Interview

Teilen
Merken
 © Marco Urban

Guten Morgen,

gestern früh trafen sich in Berlin zwei der erfahrensten Politiker zum Meinungsaustausch: Henry Kissinger, 96, und Wolfgang Schäuble, 77. Beide kennen die Untiefen der Politik. Der eine hat den Vietnamkrieg erlebt und Watergate. Der andere das DDR-Ende und den Sturz Helmut Kohls.

Gestern waren die beiden in Sorge vereint: Populismus und Nationalismus, die Verrohung der Sprache und die Unfähigkeit zum Zuhören, das waren ihre Themen. „Die Demokratie steckt in der Krise“, lautete die Schlussfolgerung. So berichtete es ein noch sichtlich bewegter Wolfgang Schäuble, der kurz danach mit Michael Bröcker und mir zum Podcast-Interview im Reichstagsgebäude verabredet war.

Schäuble neigt wahrlich nicht zum Alarmismus. Aber eine Welt in Unordnung, die den Parteienstaat schwächt, die Marktwirtschaft diskreditiert und das Bürgertum verunsichert, ist ihm nicht gleichgültig. In dem knapp einstündigen Gespräch, das in ungekürzter Länge am Samstag als Morning Briefing Sonderpodcast erscheint, sagt er:

Wir lösen uns in der öffentlichen Debatte in Teilöffentlichkeiten auf. Das treibt auseinander.

Was hält eigentlich die Gesellschaft noch zusammen, wenn sie keine gemeinsame Öffentlichkeit mehr hat? Die aber ist die Voraussetzung für eine funktionierende Demokratie.

 © Marco Urban © Marco Urban

Lobende Worte fand er für die Klimaschutzbewegung und hier insbesondere für deren deutsche Sprecherin Luisa Neubauer:

Die Jugendbewegung ist ein Grund, warum ich optimistisch bleibe. Wir haben das mit der Nachhaltigkeit unterschätzt, nicht nur den Klimawandel, der sich ja offensichtlich beschleunigt. Und dann kommen junge Menschen wie Frau Neubauer oder andere. Deren Engagement finde ich gut.

Ich habe die Reaktion von Frau Neubauer auf das Angebot von Herrn Kaeser als eindrucksvoll angesehen, so wie die Mehrzahl der Kommentare.

Wenn ich die Reaktion von Präsident Trump auf die Rede von Greta Thunberg in Davos mir ansehe: Damit allein wird er die jungen Menschen auch nicht überzeugen.

Über die Rolle der Medien und ihre Funktion bei der Revitalisierung von Demokratie haben wir ebenfalls gesprochen:

Die Medien dürfen auf keinen Fall angesichts der Probleme anfangen zu resignieren oder gar zu jammern. Sie müssen selbstbewusst bleiben.

Die sozialen Netzwerke, in denen jeden Tag Millionen Menschen ein „second life“ suchen und finden, sieht er als Mitverursacher des diskursiven Defekts:

Wenn wir immer stärker vernetzt sind, so hatte man ursprünglich geglaubt, werde uns das als Gesellschaft stärker zusammenführen. Das Gegenteil ist der Fall.

Die Gleichzeitigkeit von Digitalisierung und Globalisierung führe überall im Westen zur Verunsicherung:

Darauf hat die Politik in der westlichen Welt - in Amerika und in Europa - noch keine so ganz überzeugende Antwort. Deswegen nimmt der Populismus zu.

Um die Demokratie müsse auch eine stabile Nachkriegsgesellschaft wie die unsrige immer wieder kämpfen. Wolfgang Schäuble zitiert an dieser Stelle Barack Obama: „Die einzige Gefahr für die Demokratie ist, dass wir sie für selbstverständlich halten.“

Am Samstag dann mehr: Gesprochen haben wir auch über Viktor Orbans „illiberale Demokratie“, die Folgen von Globalisierung, Digitalisierung und die Versäumnisse der Wirtschaftseliten.

Eine Infografik mit dem Titel: Tesla zieht vorbei

Marktkapitalisierung von Tesla und Volkswagen, in Milliarden US-Dollar

Gestern war kein guter Tag für die deutsche Autoindustrie:

► In einer Ad-hoc-Mitteilung informierte der Daimler-Konzern unter Führung von Ola Källenius über die vorläufigen Geschäftsergebnisse für das Jahr 2019. Demnach ist der Gewinn vor Steuern und Zinsen um die Hälfte auf 5,6 Milliarden Euro eingebrochen. 2018 waren es noch 11,1 Milliarden Euro. Neuer Chef, alte Probleme.

► Auch in Wolfsburg blieb der Champagner gestern im Eisschrank. Der Elektro-Pionier Tesla, der nur einen Bruchteil der VW-Produktion verkauft, überholte mit einem Börsenwert von mehr als 100 Milliarden US-Dollar erstmals den Volkswagen-Konzern. Dieser Tag, das hatte einst VW-Chef Martin Winterkorn gesagt, werde niemals kommen. Über den Börsenerfolg von Tesla spreche ich heute morgen im Morning Briefing Podcast mit unserer Wall-Street-Korrespondentin Sophie Schimansky.

Winterkorns Nach-Nachfolger Herbert Diess war übrigens in Bezug auf Tesla weitsichtiger. Er hatte in einer schonungslosen Rede, die er kürzlich vor VW-Managern hielt, ausdrücklich vor Tesla gewarnt:

Das vernetzte Auto wird die Internetzeit nahezu verdoppeln. Das Auto wird das wichtigste ,Mobile Device’. Wenn wir das sehen, dann verstehen wir auch, warum Tesla aus Sicht der Analysten so wertvoll ist.

Und weiter:

Der Umbau vom Automobilkonzern zum digitalen Tech-Konzern – das ist eine gigantische Herausforderung. Es klingt unwahrscheinlich, dass man sie bewältigen kann.

Was uns fehlt, das sind vor allem Schnelligkeit und der Mut zu kraftvollem, wenn es sein muss radikalem Umsteuern.

Der Sturm geht jetzt erst los.

 © Reinhard K. Sprenger

Diese Sturmrede hat unterschiedlichste Reaktionen ausgelöst – auch Ablehnung. Ausgerechnet der erfolgreiche Management-Berater Reinhard K. Sprenger, der mit Büchern wie „Radikal führen“ oder „Das anständige Unternehmen“ Millionen Menschen erreicht, hält im „Handelsblatt“ mit markigen Sätzen dagegen:

Eine Brandrede ist unsouverän, hysterisch.

Führung hat immer einen Störungsauftrag. Das heißt, die Entscheider müssen in homöopathischen Dosen und optimistischer Absicht den Status quo infrage stellen. Und zwar permanent, tagtäglich. Wenn man stattdessen bruchhaft agiert und Brandreden hält, zeigt man, dass man diese zentrale Aufgabe nicht verinnerlicht hat.

Insofern ist es unterkomplex, plötzlich in alter personenzentrischer Manier den Blitz auf die Leute zu schleudern, statt die Strukturen zu entrümpeln.

 © imago

Sprenger ist klug, aber nicht unfehlbar. Immer wieder nutzten mächtige Männer das Stilmittel der Brandrede, um die Fokussierung einer indifferenten Masse zu erreichen und Kräfte ihrer Gegenwehr zu mobilisieren. Drei Tage nach seiner Ernennung zum britischen Premierminister – es war die Zeit, als die deutsche Wehrmacht gerade in Frankreich eingefallen war und Richtung Großbritannien vorstieß – trat Winston Churchill vor das Unterhaus. Diese Rede war der Beginn einer großen Kraftanstrengung, die später zur Anti-Hitler-Koalition der Alliierten und dann zur Kapitulation Hitlers führte. Churchills zentrale Sätze damals:

You ask, what is our aim? I can answer in one word: Victory. Victory at all costs – Victory in spite of all terror – Victory, however long and hard the road may be, for without victory there is no survival.

I have nothing to offer but blood, toil, tears and sweat.

 © dpa

Auch in Deutschland hält sich bis heute die Erinnerung an die wohltuende Wirkung der „Ruck-Rede“ von Bundespräsident Roman Herzog. Am 26. April des Jahres 1997 appellierte er in seiner sogenannten Berliner Rede an die Reformbereitschaft der Deutschen. Er setzte mit seinem Auftritt im Hotel Adlon einen neuen, präsidialen Standard, den seither kein Präsident mehr erreicht hat:

Durch Deutschland muss ein Ruck gehen. Wir müssen Abschied nehmen von lieb gewordenen Besitzständen, vor allen Dingen von den geistigen, von den Schubläden und Kästchen, in die wir gleich alles legen. Alle sind angesprochen, alle müssen Opfer bringen, alle müssen mitmachen.

Herzog hatte die Deutschen – wie Herbert Diess die VW-Manager – geschockt und es nie bereut. Auf dieser gedanklichen Plattform konnte Kanzler Schröder später seine Agenda 2010 konzipieren und dem Land verordnen. Herzog war zufrieden. Er sagte zehn Jahre später in einem Zeitungsartikel:

In meiner Rede zählte ich die Defizite schonungslos auf. Ich nannte die um sich greifende Lethargie und Depression zum ersten Mal beim Namen und rief dazu auf, endlich die Augen aufzumachen und das Schicksal wieder selbst in die Hand zu nehmen.

Nichts anderes führt Herbert Diess im Schilde. Der Unternehmensberater sollte ihn dafür nicht kritisieren, sondern loben.

 © dpa

Die Grünen sind gekommen, um zu bleiben. Parteichef Robert Habeck ließ sich auch deshalb beim Weltwirtschaftsforum in Davos blicken, um ein Signal der Wandlung zu setzen. Im Ausland bleibt dieses nicht unbeobachtet. So schreibt die „Financial Times“:

Meinungsumfragen zufolge ist die Partei auf dem besten Weg, Teil der nächsten Bundesregierung zu werden. Die Vorsitzenden bestehen darauf, dass sie die Wirtschaft nicht als Feind, sondern als dringend benötigten Partner im Kampf gegen den Klimawandel betrachten.

Eine Infografik mit dem Titel: Aufstieg der Öko-Partei

Bundestagswahlergebnisse (Zweitstimmen) der Grünen und aktuelles Umfrageergebnis, in Prozent

Die „FT“ lässt die junge Bundestagsabgeordnete Katharina Dröge zu Wort kommen. Sie sagt:

Wir sind nicht bereit, Kompromisse bei unserem politischen Ziel einzugehen, insbesondere wenn es um den Klimawandel geht. Wir sind jedoch bereit, darüber zu sprechen, wie dieses Ziel am besten erreicht werden kann. Sollte die Wirtschaft ein besseres Instrument entwickeln als das, an das wir denken, sind wir bereit, den Kurs zu ändern. Das ist neu für die Grünen.

 © dpa

Dieser Pragmatismus kommt in der Industrie gut an. BDI-Hauptgeschäftsführer Joachim Lang tritt als Kronzeuge für die Wandlungsfähigkeit der Ökopartei auf:

Wir haben in den vergangenen Jahren gesehen, dass das Interesse der Grünen an der Wirtschaft stark gestiegen ist. Sie sehen diese jetzt nicht mehr als Feind, sondern als Teil der Lösung an.

Fazit: Da wächst für die Union eine Regierungspartei im Wartestand heran. Die Wachablösung für die regierungsmüde SPD steht ante portas.

 © imago

Die Bilanz von Mario Draghi als Präsident der Europäischen Zentralbank ist umstritten. Er half in der Folge der Finanzkrise den Euro zu stabilisieren, aber:

Mit umfangreichen Käufen von Anleihen und Aktien griff er massiv in das Marktgeschehen ein. Draghis Anleihekaufprogramm war zum Amtsende über 2,5 Billionen Euro schwer und wird bis heute fortgesetzt.

Die konsolidierte Bilanzsumme des Eurosystems, also aller Zentralbanken der Eurostaaten, blähte sich auf über 4,7 Billionen Euro auf.

Die Niedrig- und Negativzinsen dürften laut DZ Bank im vergangenen Jahr allein die deutschen Sparer 54 Milliarden Euro gekostet haben.

Knapp drei Monate nach seinem Ausscheiden, soll er nun vom deutschen Staat mit einer symbolträchtigen Auszeichnung geehrt werden. Mario Draghi wird am 31. Januar das Bundesverdienstkreuz erhalten. Das Bundespräsidialamt erklärt: Draghi habe sich „mit seinem Wirken für das internationale Finanzsystem und die gemeinsame europäische Währung als Kernstück der Wirtschafts- und Währungsunion verdient gemacht.“

 © dpa

Nominiert wurde der ehemalige Zentralbankchef vom Auswärtigen Amt, das für ausländische Staatsangehörige das formale Vorschlagsrecht besitzt. Heiko Maas hat diese Ehrung gebilligt. Die SPD, die in Gestalt von Sigmar Gabriel die sozialen Folgen der Nullzinspolitik oft kritisiert hatte, dementiert sich damit selbst.

 © dpa

Das deutsch-französische Verhältnis ist in Routine erstarrt. Macron und Merkel haben sich nicht viel zu sagen. Wie aber blicken die Franzosen auf ihren Präsidenten? Ist das Land tatsächlich so reformunwillig, wie es scheint?

Darüber spreche ich im Morning Briefing Podcast mit dem Journalisten und Bestsellerautor Ulrich Wickert. Der ehemalige Leiter des Pariser ARD-Studios sagt:

Die Franzosen lieben den Staat, wenn er sie umsorgt. Aber diejenigen, die regieren, werden dann gleich wieder gehasst.

Über den Staatschef sagt er:

Das Problem bei Macron ist, dass er wie ein Intellektueller vorgeht. Dass man aber mit der Seele des Volkes sprechen und dabei vorsichtig sein muss, das weiß er nicht so richtig.

Am 19. März wird in Berlin zum ersten Mal der Deutsche Podcast Preis verliehen. Eine prominent besetzte Jury wählt die aus ihrer Sicht besten Podcasts aus, zusätzlich gibt es ein Publikums-Voting.

Auch die Hörerinnen und Hörer dürfen also ihre Stimme abgeben. Steingarts Morning Briefing Podcast – seit 381 Tagen in den Apple Podcast Charts und dort in der Hörergunst unter den täglichen Podcasts zu Politik und Wirtschaft vom Start weg die Nummer eins – ist bereits nominiert. Jetzt sind Sie gefragt, ihr Votum abzugeben. Los geht’s! www.deutscher-podcastpreis.de

Ich wünsche Ihnen einen fröhlichen Start in den neuen Tag. Es grüßt Sie auf das Herzlichste Ihr

Pioneer Editor, Herausgeber The Pioneer
  1. , Pioneer Editor, Herausgeber The Pioneer

Abonnieren

Abonnieren Sie den Newsletter The Pioneer Briefing