Nö.
Es ist der Abend der Europawahl. Die Union bekommt knapp so viele Stimmen wie alle drei Parteien der regierenden Koalition zusammen. Die AfD landet bundesweit auf Platz zwei – im Osten sogar auf Platz eins. Die Kanzlerpartei verzeichnet ihr schlechtestes Ergebnis bei einer bundesweiten Wahl aller Zeiten. Auf die Frage, ob eben jener Kanzler denn diese Wahlergebnisse kommentieren wolle, antwortet er: „Nö.“
Ein Wort. Zwei Buchstaben. Mehr braucht es aus seiner Sicht offenbar nicht.
Nun könnte man Olaf Scholz im Geiste ergänzen.
© ImagoNö, warum sollte ich? Nö, was hat das mit mir zu tun? Nö, wer seid ihr? Und wer bin überhaupt ich?
Zugegeben, das Gedankenspiel ist nicht fair. Wir wissen nicht, was der Kanzler in diesem oder allen anderen Momenten dachte und denkt.
Doch fair ist keine Kategorie in der Kommunikation. Der Mensch ergänzt, der Mensch interpretiert, der Mensch bewertet. Und der Mensch fühlt.
Und er fühlt, das legen Studien, Umfragen und Gespräche nahe, Entfremdung.
Das hat nicht nur aber auch mit politischer Kommunikation, nicht nur aber insbesondere mit der des Regierungschefs zu tun.
Ist sie tatsächlich größer geworden, die Distanz zwischen der Wahlbevölkerung und der politischen Ebene? Sind „die da oben“ weiter weg denn je?
Die Beschwerde des Bürgers über die abgehobene, ahnungslose (und schlimmer noch: desinteressierte) Politik ist keine neue, doch sie gewinnt immer mehr an Bedeutung.
Zeigte sich die Abkehr vom politischen System ehemals noch in Politikverdrossenheit und Wahlabstinenz, wird sie seit Mitte der 2010er Jahre von populistischen, in Teilen extremistischen und illiberalen Parteien immer erfolgreicher adressiert.
Anti-Establishment ist Donald Trump in den USA, Javier Milei in Argentinien, das sind Jair Bolsonaro in Brasilien, Recep Tayyip Erdoğan in der Türkei, das sind AfD in Deutschland, Syriza in Griechenland, Podemos in Spanien – die Liste ließe sich noch lange fortsetzen.
Auch wenn sie unterschiedlichen Ideologien folgen, haben all diese Politiker, Parteien und Bewegungen eines gemeinsam, schreibt der Politikwissenschaftler Marcel Lewandowsky: „das populistische Prinzip des ‚Wir-hier-unten gegen Die-da-oben‘“. Weiter: „Sie nehmen für sich in Anspruch, für das ‚wahre Volk’ zu sprechen. Sie zeichnen das Bild einer kaputten Demokratie, die zur Beute korrupter Eliten wurde. Und sie geloben, dem Willen dieses Volkes wieder Geltung zu verschaffen.“
© ImagoOb berechtigt oder nicht: Das Gefühl von der abgekapselten politischen Elite reicht aus, um Jahrzehnte alte Parteiensysteme aus den Angeln zu heben.
Und ja, in Teilen ist dieser Vorwurf eben nicht nur eine gefühlte Wahrheit, sondern eine manifeste.
In Lebensräumen, Privilegien und Sprache ist die Politik – mal mehr, mal weniger bewusst – in einem Distanz-Verhältnis zum Rest der Gesellschaft. Sie trägt nicht immer Schuld daran, um Schuld soll es auch gar nicht gehen. Doch sich dessen bewusst zu werden, kann ein Schritt sein, innenpolitischer Zersetzung und außenpolitischer Einflussnahme entgegenzutreten.
Eine Infografik mit dem Titel: Europa: Das Erstarken der Rechten
Ergebnis der Europawahlen seit 2014 von ausgewählten rechtspopulistischen Parteien, in Prozent
Lebensräume
Entfremdung meint häufig Distanz – inhaltliche, intellektuelle und auch räumliche. Ob Politikerin, Manager, Ingenieurin oder Pilot – wer viel verdient, der wohnt nicht nur anders, sondern auch woanders. In Stadtteilen ohne allzu viel Armut, ohne allzu viel Verschmutzung, ohne allzu viel Straßenkriminalität – man könnte auch sagen, ohne allzu viel Hoffnungslosigkeit.
Wo ich lebe, bestimmt, was ich sehe, höre, rieche – kurz: welche Wirklichkeit ich erlebe.
Wer morgens einen frisch gemähten Rasen riecht, das gepflegte Rosenbeet sieht und sich an der Jugendstil-Architektur der Umgebung erfreut, lebt in einer anderen Welt als jemand, der auf überfüllte Mülltonnen, heruntergekommene Wohnblocks und verwaiste Spielplätze blickt.
Wer im Bundestag, in Landtagen, im Kanzleramt, in einem Ministerium oder gar im Schloss Bellevue arbeitet, bewegt sich in einem anderen Raum als jener, der an der Discounter-Kasse, in der Kfz-Werkstatt, auf dem Bauernhof oder im Krankenhaus arbeitet.
Und natürlich muss der politische Raum geschützt werden. Natürlich braucht es Zäune, Sicherheitsleute, Einlasskontrollen und dergleichen mehr. Doch sie wirken eben in das Bewusstsein hinein. In das jener, die drin sind und in das jener, die es nicht sind.
© Anne HufnagelDie dem politischen Betrieb sehr eigene Erhabenheit führt nicht immer und bei jedem zu Demut, sondern hie und da auch zur Selbstverständlichkeit.
In einem Gastkommentar für den Tagesspiegel schreibt Sigmar Gabriel 2018: „Unsere Kinder gehen zumeist nicht in Kitas und Schulen mit mehr als 80 Prozent Migrantenanteil, wir gehen nicht nachts über unbewachte Plätze oder sind auf überfüllte öffentliche Verkehrsmittel angewiesen, leben nicht in der Rigaer Straße in Berlin und wenn wir zum Arzt gehen, bekommen wir schnell Termine und Chefarztbehandlung selbst dann, wenn wir Kassenpatienten sind.“
Fast interessanter als die Frage nach dem statischen Arbeits- oder Wohnraum, ist die Frage nach der Mobilität.
Wie bewegen wir uns durch die Welt und was sehen wir dabei?
Nehmen wir Busse, S- und U-Bahn? Spüren wie Enge? Riechen wir einen Cocktail aus Schweiß, kaltem Rauch und dem unangenehm aufdringlichen Parfum der anderen? Müssen wir stehen, weil alle Sitzplätze vergeben sind, blicken wir in schlecht gelaunte Gesichter, weil wegen eines Staatsbesuchs der S-Bahn-Verkehr nur eingeschränkt läuft, haben wir selbst deswegen schlechte Laune, weil wir zu spät kommen werden? Steigen wir aus, hetzen zum Anschlusszug und sehen in Haltestellen und in U-Bahnhöfen eingeschlafene, bewusstlose, offenbar obdachlose Menschen?
Oder haben wir einen Fahrer?
Insgesamt 120 Limousinen des Bundestags-Chauffeurdienstes eskortieren die Abgeordneten innerhalb der Stadtgrenzen von Berlin. Der Steuerzahlerbund hat für 2022 ausgerechnet: Jeder Abgeordnete hat im Schnitt 141-mal ein Auto bestellt – umgerechnet etwa einmal pro Tag in den Sitzungswochen.
Den Steuerzahler kostet der Politiker-Shuttle mehr als zehn Millionen Euro pro Jahr.
© dpaDoch was ist mit dem einen großen Gleichmacher der Bundesrepublik Deutschland: Was ist mit der Deutschen Bahn? Trifft ihr hartnäckiges Versagen nicht uns alle? Ja, aber nein.
Es genügt, einmal Erste Klasse gefahren zu sein, um zu wissen, dass der vermeintliche zusätzliche Komfort eigentlich nicht der Rede wert ist.
Der gleiche hoffnungslose Grauton, dieselbe Hygiene-Abneigung, derselbe Mief.
Doch es reicht eben auch, einmal Erste Klasse gefahren zu sein, um zu wissen: Die Spurenelemente an Komfortsteigerung nimmt man lieber mit. Und gestrichene Züge, Verspätungen, geänderte Wagenreihungen und ausgefallene Reservierungsanzeigen hin oder her: Es macht einen Unterschied, wenn man, so man es in die Bahn geschafft hat, gefragt wird, ob man etwas trinken möchte, während andere den häufig würdelos wackeligen Gang ins Bistro antreten und dort Schlange stehen müssen.
Wenn einem das Essen in Tellern, der Kaffee in Tassen statt in Papp-Geschirr an den Platz gebracht wird.
Wenn einem bei jeder Fahrt eine kleine Schokolade gereicht wird auf der steht: „Lieblingsgast“.
Und ja, man hat auch ein wenig mehr Platz, mehr Beinfreiheit und insgesamt weniger Menschen um sich herum. Man hat mehr Distanz.
Und Abgeordnete: Alle Mitglieder des Bundestages bekommen eine Netzkarte zur Verfügung gestellt. Sie berechtigt zu Fahrten in der Ersten Klasse – und kann auch privat genutzt werden.
Was so eine Bahn-Flatrate wert ist, zeigt ein absurder Streit zwischen dem Haushaltsausschuss des Bundestages und dem Bundesrat. Auch das Spitzenpersonal der Länder hat Anrecht auf eine Bahncard100, da Minister und Ministerinnen aus ihren Landeshauptstädten regelmäßig zu Bundesratssitzungen nach Berlin anreisen müssen. Allerdings hegen die Haushälter den Verdacht, dass die meisten Landesvertreter per Dienstwagen oder Flugzeug in die Hauptstadt kommen – und die Bahncard100 gar nicht nutzen.
Auf die Freifahrkarte wollen aber nur wenige verzichten. Auf Anfrage verweist das Sekretariat des Bundesrats auf den „gesetzlichen Anspruch auf kostenlose Benutzung der Bahn“ für 182 Mitglieder des Bundesrats. 107 nutzten dies. Wer das tut, verrät der Bundesrat aber nicht. Privilegien sollen lieber Privatsache bleiben.
© ImagoDer Linken-Politiker Gregor Gysi war im Jahr 2002 in eine Bonusmeilen-Affäre verstrickt und sagte damals, er habe begonnen, „Privilegien als Selbstverständlichkeit hinzunehmen“ und fürchte sich vor „Persönlichkeitsveränderungen“.
Privilegien
Ab Juli steigt das Gehalt der Bundestagsabgeordneten, die sogenannte „Abgeordnetenentschädigung“, um gut 635 Euro auf 11.227 Euro pro Monat. Das Plus fällt in diesem Jahr mit sechs Prozent üppig aus, da es an den Nominallohnindex des Statistikamtes gekoppelt ist. Wegen der hohen Inflation sind zuletzt viele Löhne gestiegen. Die Diäten orientieren sich an der Richterbesoldung am obersten Bundesgericht.
© ImagoHinzu kommt eine Aufwandspauschale in Höhe von aktuell 5.052 Euro, die jedes Jahr an die Inflation angepasst wird und nicht versteuert werden muss. Davon müssen alle Ausgaben bestritten werden, die zur Ausübung des Mandates anfallen: vom Wahlkreisbüro über den zweiten Wohnsitz in Berlin bis hin zum Büromaterial im Wahlkreis sowie Kosten der Wahlkreisbetreuung.
Damit gehört der Deutsche Parlamentarier zur internationalen Spitze: Ein Diäten-Vergleich mit dem EU-Ausland zeigt, dass deutsche Abgeordnete zu den Top-Verdienern in Europa gehören. Italiener erhalten knapp 10.350 Euro pro Monat. Die Franzosen, Holländer, Dänen und Spanier liegen – teils deutlich – darunter.
Eine Infografik mit dem Titel: Lohn der Volksvertreter
Abgeordnetengehälter plus steuerfreie Aufwandspauschale ausgewählter EU-Länder, in Euro
Gekündigte Angestellte erhalten Arbeitslosengeld, abgewählte Abgeordnete ein Übergangsgeld. So soll ihnen die Suche nach einem Job erleichtert werden. Pro Jahr als Bundestagsabgeordneter zahlt der Staat einen Monat Diät – nach einer vollen Legislaturperiode also aktuell mehr als 42.000 Euro. Ab dem zweiten Monat werden neue Erwerbseinkünfte verrechnet.
Abgeordnete erhalten pro Jahr ihres Mandats eine „Altersentschädigung“ in Höhe von 2,5 Prozent ihres Lohns – aktuell also 265 Euro pro Jahr. Wer die Ampel-Legislatur bis 2025 übersteht, bekommt also mehr als 1050 Euro pro Monat im Rentenalter ausgezahlt. Nicht schlecht.
© dpaPeter Tauber war Bundestagsabgeordneter, Generalsekretär der CDU und parlamentarischer Staatssekretär im Verteidigungsministerium – er weiß, wie sich ein Leben als Volksvertreter im Vergleich zu einer zivilen Berufskarriere anfühlt. Heute leitet er seine eigene Kommunikationsagentur. Tauber sagt: „Die Volksvertreter haben ein tolles Leben.“
Es gebe zwar durchaus „Zumutungen“, etwa die zahlreichen Abend- und Wochenendtermine in Berlin und im Wahlkreis und das Gefühl, ständig auf Tour zu sein. Er habe als Generalsekretär in gut vier Jahren mehr als 400.000 Kilometer im Auto verbracht, haben er und sein Büroleiter mal ausgerechnet. Außerdem sei das Leben als öffentliche Person durch „regelmäßige Eingriffe in die Privatsphäre“ belastet. Was er anfangs noch als grob störend empfunden habe, habe er später stoisch hingenommen. Als Politiker stumpfe man ab. Wenn etwa der Hintermann an der Supermarktkasse heimlich Fotos von den Einkäufen mache, habe er das einfach ignoriert.
An sich seien Politiker aber „eine hoch privilegierte Berufsgruppe“. Den Abgeordneten würden Türen geöffnet, wo immer sie hinkommen, sagt er, vor allem bei Unternehmen. „Das ist eine Selbstverständlichkeit, von der andere Menschen nur träumen können.“
Abgeordnete, so Tauber, liefen Gefahr, bestimmte Privilegien als Selbstverständlichkeit hinzunehmen. Wer dann falsch oder unglücklich kommuniziere, verfestige dann den Eindruck, „zum Establishment zu gehören“.
Apropos Kommunizieren: Der Grat zwischen „Klartext reden“, wie es sich viele Bürger von Politikern wünschen, und „politischer Korrektheit“, um keine Minderheiten zu verletzen, sei inzwischen sehr schmal geworden. „Sich genau dazwischen zu bewegen, ist nicht leicht“, sagt Tauber. „Und das führt dann zu Stanzen, die keiner mehr hören kann.“
Roland Koch, ehemaliger Ministerpräsident von Hessen, habe ihm mal gesagt: „Erst wenn es uns zu den Ohren rauskommt, kommt es bei den Leuten an.“ Zum „Handwerk der Abgeordneten“ zähle auch mal, etwas nicht zu sagen.
Er erinnert sich an eine Präsidiumssitzung der CDU, über die im Anschluss nicht berichtet werden sollte. Tauber habe sich entschieden, „in Bandsätzen ohne Punkt und Komma zu sprechen, damit ich nicht in den Nachrichten vorkomme“. Das habe „keinen Spaß gemacht.“
Sprache
Es genügt nicht, keine Gedanken zu haben. Man muss auch unfähig sein, sie auszudrücken.
Was ist nicht schon alles über die Sprache von Politikerinnen und Politikern gesagt worden? Sie sprechen in Phrasen, sie verstecken sich hinter Worthülsen. Reden, ohne etwas zu sagen.
„Wir haben eine Verantwortung für dieses Land.“
„Wir wollen die Zukunft gestalten.“
„Sie kennen mich.“
„Machen, was zählt.“
„Ich sage in aller Klarheit“, beginnen die Sätze und enden im semantischen Nirvana.
© ImagoDie Sprache der Politiker gleicht häufig einem Versteckspiel, einem Unsichtbarbleibenwollen, einem Schutzmechanismus – häufig auch zum Schutz vor Schlagzeilen der Journalistinnen und Journalisten. Natürlich haben die Wirkweisen von Medien (so viel Selbstkritik muss sein) einen großen Einfluss auf die Art, wie Politiker sprechen.
Einen mittlerweile noch größeren Einfluss hat Social Media und die Angst vor dem ewig lauernden Shitstorm.
Und doch ist die Frage der Kommunikation beziehungsweise ihr Ausbleiben von größter Relevanz zwischen gewähltem Politiker und Wahlvolk. Für den Politik-Linguisten Armin Burkhardt ist Politik „zum weitaus überwiegenden Teil politische Kommunikation“.
Das Besorgniserregende: Selbst in Phrasen hat sich die Entfremdung zwischen Politik und Bevölkerung eingenistet.
Wie häufig sprechen Politikerinnen und Politiker in Talkshows, in Interviews und Reden von den „Menschen da draußen“.
Es ist legitim zu fragen, welches draußen das denn bitteschön sein soll. Außerhalb von was? Und wenn die Menschen da draußen sind, wer ist denn dann drinnen?
„Die Menschen mitnehmen“, müsse man. Sie „abholen“. Wer holt hier wen wo ab? Wo geht es hin? Und überhaupt: War nicht das Volk der Souverän? Müsste er nicht wo hinwollen, statt abgeholt und hingebracht zu werden?
Den wenigsten Politikern, die diese Formulierungen nutzen, ist eine Nähe zum Autoritären vorzuwerfen und doch manifestiert sich hier unbewusst ein geradezu unbedarft-natürlicher Umgang mit Entfremdung und Vertrauensverlust.
© Imago„Es ist der Unterschied zwischen den ‚ins‘ und ‚outs‘, zwischen ‚oben‘ und ‚unten‘, zwischen elitär abgehobenem Establishment und ‚einfachen‘, in ihren Interessen sich vernachlässigt fühlenden Bürgern“, schreibt der Politikwissenschaftler Heinrich Oberreuter in seinem Aufsatz „Entfremdung“. Und er betont die herausragende Rolle der Kommunikation und fragt: „Gerade die Demokratie beruht auf aktueller Legitimitätsgewinnung durch Kommunikation. Wie soll auch ohne sie Vertrauen gewonnen werden?“
Disruptive Veränderungen der Politik, ihre zunehmende Komplexität (Globalisierung, Wirtschaftskrisen, Systemumbrüche, Migration, Kriege und Systemkonkurrenz) und damit verbundene Erklärungs-, Verständnis- und Bewältigungsprobleme sind laut Oberreuter verantwortlich für Vertrauensverluste – „also Kommunikationsdefizite“. Insbesondere in liberalen Demokratien und einem Einwanderungsland wie Deutschland sei Kommunikation „als sozialer Kitt allein schon aufgrund der Heterogenität der Gesellschaft unverzichtbar“.
Was bedeutet es dann für dieses Deutschland heute, wenn der Kanzler häufig nicht einmal redet, ohne etwas zu sagen, sondern einfach gar nicht spricht? Man muss weder Linguist noch Kommunikationsexperte oder Politikwissenschaftler sein, um zu erahnen: nichts Gutes. „Nö.“
Auswirkungen
Ein Mindestmaß an Identifikation und geteilten Lebensrealitäten mit gewählten Politikern ist Voraussetzung dafür, sich im politischen System repräsentiert zu sehen. Nur wenn die Gesellschaft in der Lage ist, sich in den Akteuren der Politik zu spiegeln – und andersherum – entstehen Zugehörigkeitsgefühle und das Potenzial für Teilhabe und demokratisches Engagement.
Fehlt diese Nähe, entsteht Entfremdung.
Karl Marx sah in der ökonomischen Entfremdung des Proletariers, dem das Klassenbewusstsein fehlt und der in seiner Arbeit ausgebeutet wird, eine Strategie der kapitalistischen Produktionsweise zur Erhaltung ihrer Macht.
Daran anknüpfend besteht das Risiko, dass in der politischen Entfremdung der Bevölkerung, der das Gemeinschaftsbewusstsein fehlt, extremistische und illiberale Parteien und Akteure ihrerseits ihre Strategie aufbauen. Mit Folgen, die weit über innenpolitische Konflikte hinausgehen.
Jüngst kam ein medial weitestgehend unbeachteter Beitrag der Deutsche Vereinigung für Politikwissenschaft zu dem Ergebnis, dass Sympathien gegenüber ausländischen Autokraten wie Putin besonders dort vertreten werden, wo Menschen sich aus von ihren demokratischen Systemen entfremdet haben. Diesem Zusammenhang liege ein „intuitiver psychologischer Mechanismus“ zugrunde: „Nach der sozialpsychologischen Balancetheorie neigen Menschen in ihren sozialen Beziehungen zu Balance und wollen inkonsistente Einstellungen gegenüber Personen und Entitäten vermeiden. Um diese Balance herzustellen, neigen sie dazu, die Freunde ihrer Freunde zu mögen oder alternativ – und für unseren Fall entscheidender – auch die Feinde ihrer Feinde.“
Bedeutet: „Personen, die sich vom deutschen politischen System entfremdet haben, könnten Putin – selbst ein prominenter ‚Gegner‘ des Systems, das sie nicht unterstützen – als Verbündeten in ihrer Entfremdung betrachten und folglich Sympathien gegenüber Putin und seinem Regime hegen.“
Diese „Der Feind meines Feindes ist mein Freund“-Logik könnte auch erklären, warum eine ansonsten ideologisch sehr heterogene Gruppe an den Rändern des politischen Spektrums positivere Ansichten gegenüber Putin und seinem Regime zu teilen scheint.
Welche Auswirkungen das auf die Empfänglichkeit für russische Propaganda uns aus dem Kreml gezielt gestreute Fake News hat, liegt auf der Hand.
Angesichts der Herausforderungen des Ukraine-Kriegs und der europäischen Integration, bleibt Entfremdung insofern nicht nur ein demokratietheoretisches Problem und eine Gefahr für den gesellschaftlichen Zusammenhalt, sondern auch eine handfeste außen- und sicherheitspolitische Gefahr.
„Kommunikative Demokratie verlangt diskursive Überzeugungsarbeit“, sagt Politikwissenschaftler Oberreuter.
Eine Überzeugungsarbeit, die über „Nö” vermutlich hinausgeht.
Eine Arbeit, der hoffentlich bald jemand nachgeht.