Die Zukunft des Einkaufens liegt für Münchener in der Karlstraße 36 im Univiertel Maxvorstadt. Rewe hat dort einen „Pick&Go“-Markt eröffnet – Deutschlands ersten vollautonomen Lebensmittel-Shop. Wer Obst, Käse oder Getränke einkaufen will, lädt sich zunächst eine App herunter und legt die Sachen in seine Tasche. Dann wird bezahlt – ohne an die Kasse zu gehen. „Wirklich, du kannst einfach rausgehen“, schreibt Rewe.
Die App rechnet automatisch im Hintergrund ab. Dutzende Kameras und hunderte Sensoren haben zuvor erkannt, welche Artikel der Kunde entnommen und wieder ins Regal zurückgelegt hat. Die Resonanz der Konsumenten auf den Test, der seit neun Monaten läuft, sei „beeindruckend“, sagt eine Mitarbeiterin. Zwölf Shop-Angestellte füllen Regale auf, greifen bei technischen Problemen ein oder checken das Alter der Neukunden, weil auch Alkohol und Tabak verkauft werden. Hin und wieder piepst es im Eingangsbereich. Der Laden ist voll, vor allem mit jungen Leuten.
Rewe legt Wert darauf, dass es bei der Innovation zu „keiner Einsparung von Marktpersonal“ kommen werde. Dass der Konzern dies so ausdrücklich erwähnt, zeigt, wie angstbehaftet Deutschland auf das Thema Automatisierung blickt: Prozessoptimierung klingt wie Jobabbau – und das ist pfui.
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Dabei erprobt Rewe in München eine Antwort auf den Fachkräftemangel. Deutschlands Arbeitsmarkt wird schrumpfen. 73 Prozent aller Firmen klagen laut Bertelsmann-Studie schon heute über fehlende Fachkräfte. Und ihr Klagelied wird immer lauter.
Allen Moll-Tönen zum Trotz: Deutschland kommt nicht drumherum, Arbeit neu zu denken. Es geht darum, Mehrarbeit wertzuschätzen und Arbeitsschritte zu würdigen, die KI- und nicht menschengemacht sind. Frauen sollten mehr Voll- statt Teilzeit arbeiten. Das Land braucht in mehrfacher Hinsicht ein Update – und mehr Offenheit gegenüber Ausländern.
Die Prognosen lassen gar keine andere Wahl zu. Denn Deutschland gehen die Erwerbstätigen aus.
Die Arbeiterlücke: 2035 werden bis zu sieben Millionen Erwerbstätige fehlen – das sind rund 15 Prozent weniger Arbeitskräfte als heute.
Die Rentnerrepublik: Bis 2035 steigt die Zahl der Menschen in Rente um 22 Prozent – immer weniger Beitragszahler finanzieren immer mehr Rentner.
Die Pflegebombe: Die Erwerbstätigen werden neben der Arbeit nicht nur ihre Kinder betreuen, sondern auch ihre Eltern – meist sind es die Frauen.
Die Negativbilanz: Bis 2060 könnte die Zahl der Erwerbstätigen ohne Migration von heute 47 Millionen Erwerbstätigen auf 31 Millionen einbrechen.
Kurzum: Deutschlands Wohlstand ist in Gefahr!
Eine Infografik mit dem Titel: Deutschland: Schrumpfende Erwerbsgesellschaft
Szenarien für die Entwicklung des Erwerbspersonenpotenzials bis 2060
Die Wirtschaft ist alarmiert. Lufthansa-Chef Carsten Spohr sagte vor wenigen Tagen in Frankfurt: Der Vorstand habe die Rekrutierung der Mitarbeiter wieder in den Fokus gerückt. Denn es fehlten ja „nicht nur Fachkräfte“ wie Piloten, sondern „auch Arbeitskräfte“. Ein Airbus A380 kann eben nicht abheben, wenn das Gepäck fehlt.
Enzo Weber vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) fordert Tempo: Wenn Deutschland die Schrumpfung der Erwerbsgesellschaft vermeiden wolle, „müssen wir bei den Gegenmaßnahmen noch mindestens zwei Schippen drauflegen“.
Aber welche Böden sollen die Schaufeln aufreißen? Hier ein paar Ansätze:
#1 Danke, Roboter
Rewe ist zufrieden mit dem Testlabor in München. Ähnliche Shops gibt es in Köln und Berlin. Die Erkennungsraten, also welche Artikel die Kunden tatsächlich in den Wagen legen, seien „sehr hoch“ und die Reklamationsquoten „erfreulich niedrig“, so Rewe. Und die Kunden seien „überaus begeistert“. Man wolle die „Testszenarien sukzessive ausbauen“.
Der Weg ist damit vorgezeichnet – auch in anderen Branchen:
In der Gastronomie bestellen Kunden längst per App und holen sich das Essen oft selbst. Die Luca-App, die während der Coronapandemie den Eintritt in Restaurants erleichterte, soll als Reservierungs- und Bezahl-App für die Gastronomie Standard werden. Der Erfolg ist noch überschaubar. Bis Ende 2023 will das Unternehmen 1000 Restaurants an das System angeschlossen haben, vor allem in Berlin-Mitte. Aber die Technik ist vorhanden. Und Nachahmer würden folgen.
In der Bauwirtschaft arbeiten die Unternehmen nach wie vor wie in einer Manufaktur. Serielles Bauen ist kein Standard der Branche. Dabei ließen sich so nicht nur die Kosten drücken, sondern auch Arbeitskräfte und -schritte einsparen.
In der Luftfahrt gehören Selbst-Check-Ins und selbstständige Gepäckaufgaben längst zum Standard. Auch sie sind eine Form, eigenes Personal zu reduzieren und Arbeitsschritte auszulagern. Da ginge noch mehr.
Die Liste ließe sich problemlos erweitern. Deutsche Weltmarktführer sind sogar Treiber und Profiteure dieser Vollautomatisierung. Siemens etwa baut und digitalisiert Fabriken mit atemberaubendem Erfolg. In Unternehmenskreisen heißt es, dass gerade der Fachkräftemangel in den Industrieländern das eigene Geschäft pushen könnte. Denn Maschinenbauer, Autohersteller und Werkzeugmacher seien gezwungen, über arbeitssparende Produktionsschritte nachzudenken.
Dazu gehört auch Mut – vor allem bei Großprojekten. Nur ein Beispiel: In Norwegen etwa digitalisiert Siemens das gesamte Schienennetz: 4200 Kilometer, 350 Bahnhöfe – ein Milliarden-Projekt. Norwegen verwirkliche als erstes Land das Prinzip „ein Land, ein Stellwerk“, heißt es bei Siemens. So werden Betrieb und Wartung reduziert, spezielle Hardware und Ersatzteile würden „zu einem Relikt der Vergangenheit“, sagt Michael Peter, Chef von Siemens Mobility. Autonome Zugsysteme lassen sich daran besser anschließen. Und auch das bedeutet die Digitalisierung der Schiene: weniger Fachleute.
Und Deutschland? Zögert den flächendeckenden Ausbau der digitalen Schiene hinaus.
Holger Bonin vom Bonner Institut zur Zukunft der Arbeit (IZA) sagt: „Bei Arbeitsknappheit und entsprechend höheren Löhnen lohnt es sich eher, Prozesse zu automatisieren, als bei einem Arbeitskräfteüberschuss.“
Gerade Deutschland hat laut Beratung Accenture gute Chancen, die Arbeitsproduktivität bis 2035 durch den Einsatz von Künstlicher Intelligenz (KI) deutlich zu erhöhen. Die Experten erwarten eine höhere Effizienz von bis zu 29 Prozent – wenn alles glattläuft. Nur Schweden, Finnland, Japan und die USA hätten die Chance, noch produktiver zu sein. Das liegt auch an der Gesellschaft, die technischen Innovationen aufgeschlossener gegenüberstehe.
Eine Infografik mit dem Titel: Effizienzpeitsche KI
Welche Länder durch Künstliche Intelligenz (KI) bis 2035 die höchsten Produktivitätsfortschritte erwarten können (in Prozent)
#2 Ausländer rein
Deutschland braucht Fachkräfte aus Drittstaaten, aber die Realität sieht trist aus. 2022 sind 56.000 Qualifizierte nach Deutschland eingewandert – eine Steigerung von 19 Prozent gegenüber dem Vorjahr. Ende 2022 lebten somit 351.000 Ausländer mit befristetem Aufenthaltstitel zum Zweck der Erwerbstätigkeit in Deutschland. Doch das ist zu wenig.
Vor allem: Die 56.000 aus dem Jahr 2022 machten nur 22 Prozent der Zugezogenen aus Drittstaaten aus. Die meisten Einwanderer sind Flüchtlinge, die politisches Asyl erbeten oder aus anderen Gründen fliehen – nur ein kleiner Teil von ihnen ist top-gebildet.
Experten des IAB sprechen daher von bis zu 400.000 Fachkräften aus dem Ausland, die jedes Jahr nach Deutschland netto einwandern müssten. Ist das realistisch?
Eine Infografik mit dem Titel: Unbeliebtes Deutschland
Wie Expats das Leben in Deutschland bewerten, Ranking unter 53 Staaten: 1 Top, 53 Flop.
Aktuell nicht. Denn um das zu schaffen, müsste ein mehrfacher Wumms durch Deutschland gehen:
Die Gesellschaft müsste es wollen: Ausländische Expats, die von Firmen nach Deutschland geschickt werden, bewerten das Land in einer Expat-Studie der Beratung InterNations auf Rang 49 von 53 untersuchten Staaten. Fazit: „Das Land erhält erbärmliche Noten in den Kategorien Freundlichkeit (Rang 50), Freunde finden (49) und Willkommenskultur (49).“ Und das schon seit zehn Jahren.
Die Behörden müssten sich digitalisieren: Die Herausforderungen für ausländische Fachkräfte seien hoch, weil das Land bei der Digitalisierung zurückliege und die „unflexible Bürokratie“ das Leben erschwere, so die Expat-Studie. Aus dem Auswärtigen Amt (AA) heißt es, dass hochqualifizierte Fachkräfte gerade mal „an inzwischen 13 Auslandsvertretungen“ eine Blaue Karte EU, sprich: ein Visum für hochqualifizierte Akademiker, online beantragen könnten. Richtig: dreizehn!
Armin Rupp ist Leidgeplagter dieser Entwicklung. Mit einer Serviceagentur in Nairobi versucht er seit zwei Jahren, Physiotherapeuten, Medizinisch-Technische Assistentinnen und Krankenpfleger aus Kenia nach Deutschland zu vermitteln. Den 128 Fachkräften, die „eigentlich sofort kommen könnten“, werde die Einreise erschwert. „Wir kriegen keine Termine bei der Botschaft“, sagt Rupp. Das AA lässt ausrichten, dass Antragsteller „chronologisch nach Datum der Registrierung bei der Terminvergabe berücksichtigt“ würden – das klingt nicht gerade nach dem viel beschworenen Deutschland-Tempo.
Eine Infografik mit dem Titel: Wir sprechen Deutsch
Umfrage unter Unternehmen zu den Problemen bei der Anwerbung ausländischer Fachkräfte, in Prozent
Immerhin will die Bundesregierung die Visa-Prozesse erleichtern und Hürden abbauen. Im Juli dieses Jahres hat Deutschland ein neues Fachkräfteeinwanderungsgesetz verabschiedet. Die wichtigsten Merkmale:
Ab November 2023 wird die Verdienstgrenze für die Blaue Karte EU für Akademiker um gut 15.000 Euro auf 43.800 Euro gesenkt. Für Engpassberufe wie Mediziner, Ingenieure, Lehrkräfte und spezielle Führungsjobs sind es nur 40.000 Euro pro Jahr. IT-Spezialisten können mit dreijähriger Berufserfahrung auch ohne Hochschulabschluss nach Deutschland kommen. Bei allen ist Voraussetzung ein Arbeitsvertrag.
Ab März 2024 muss ein Anerkennungsverfahren nicht mehr vor der Einreise durchgeführt werden. Qualifizierte Job-Migranten können also Unterlagen prüfen lassen, während sie schon in Deutschland arbeiten. Voraussetzung ist auch hier ein Arbeitsvertrag.
Ab Juni 2024 wird die Chancenkarte eingeführt. Mit dieser sollen Interessierte aus Drittstaaten für ein Jahr nach Deutschland einreisen können, um sich hier eine Stelle zu suchen. Bewerber erhalten Punkte für anerkannte Qualifikationen, Deutschkenntnisse, Berufserfahrung, Alter oder Deutschlandbezug – und brauchen mindestens sechs davon. Zwei Punkte gibt es etwa für „ausreichende deutsche Sprachkenntnisse“ auf B1-Niveau.
Das klingt nach Reform, für Experten ist es eher ein Reförmchen.
Wichtiger als eine Chancenkarte wäre es, die Abschlüsse der ausländischen Qualifikationen schneller und unbürokratischer anzuerkennen, sagte Arbeitsmarktforscher Bonin dem Mediendienst Integration. Deutschland sei zu stark auf formale Zertifikate fixiert und vertraue zu wenig auf die Fähigkeit der Arbeitgeber, geeignete Bewerber zu finden. Bonin: „Da könnten wir großzügiger sein.“
Aber immerhin: Deutschland öffnet sich.
#3 Frauen ran
Deutschland hat mit 29 Prozent die dritthöchste Teilzeitquote der EU. Vor allem Frauen entscheiden sich – freiwillig oder unfreiwillig – auffallend oft für weniger Arbeitsstunden pro Woche. Die Teilzeitquote bei Frauen in Deutschland liegt bei 49 Prozent. Nur die Niederlande, die Schweiz und Österreich kommen auf eine höhere Quote.
Eine Infografik mit dem Titel: Halbe Kraft in Deutschland
Teilzeitquote von Frauen in ausgewählten Ländern in Europa, in Prozent
Für Sebastian Dettmers, Chef der Jobbörse Stepstone, ist das „wirtschaftlicher Irrsinn“. Frauen waren noch nie so qualifiziert wie heute: Mehr Frauen als Männer machen Abitur, 52 Prozent der Hochschulabsolventen sind weiblich. Ein Vollzeitjob würde vielen Frauen nicht nur größere finanzielle Unabhängigkeit und bessere Karrierechancen eröffnen – mehr Frauen in Vollzeit würden nebenbei noch unseren Wohlstand retten. „Denn“, so Dettmers, „das nächste Wirtschaftswunder wird nur gelingen, wenn es weiblich ist“.
Aber nach wie vor kümmern sich vor allem Frauen um die Kinder und – zunehmend – auch um die Pflege der Eltern.
Dettmers hat Ideen:
Care-Angebote ausbauen: Das Betreuungsangebot von Kindern und Pflegebedürftigen müsse verlässlich und „qualitativ attraktiver“ werden.
Ehegattensplitting streichen: Tradierte Denkmuster und Stereotype „lähmen den Fortschritt“.
Erzieherjobs aufwerten: Die Fachkräfte müssten „besser bezahlt“ werden und attraktivere Arbeitsbedingungen vorfinden.
Das ifo Institut in München hat das weibliche Potenzial für den Arbeitsmarkt einmal errechnet. Hätten Frauen die gleichen Erwerbsquoten wie Männer, läge das Arbeitskräftepotenzial 2035 um 640.000 Personen höher. Wären insbesondere zugewanderte Frauen im gleichen Maße beruflich aktiv wie deutsche, gebe es bis zur Mitte der 2030er-Jahre fast 380.000 Arbeitskräfte mehr.
Wenn Deutschland seinen Frauen also ein besseres Umfeld bieten würde, wäre der Fachkräftemangel erheblich geringer.
#4 Bürger bilden
Die Rente mit 63 ist ein enormes Erfolgsmodell – und eine Wohlstandsverschleuderung sondergleichen. Allein im vergangenen Jahr gingen 262.000 Menschen vorzeitig in den Ruhestand. Es sei ihnen gegönnt. Aber Deutschland hat andere Bedürfnisse.
Eine steigende Erwerbsbeteiligung von Älteren hätte immense Vorteile für die Volkswirtschaft. Das zeigt eine Simulationsrechnung des Forschungsinstituts IAB in Nürnberg. Die Forscher haben eine längere Beteiligung der unter 70-Jährigen am Arbeitsleben berechnet, die einer Anhebung des gesetzlichen Rentenalters auf 69 Jahre entsprechen würde, wie sie etwa die Bundesbank fordert. Die Schrumpfung des Erwerbspersonenpotenzials bis 2030 könnte so laut IAB um 2,4 Millionen Personen gedämpft werden.
Für Christian Jerusalem sind ältere Arbeitnehmer ein Lebensthema. Er hat viele Jahre für eine Outplacementberatung gearbeitet und weiß, wie schnell Ältere aufs Abstellgleis geschoben werden. Der Chef der Beratung Wiseforce Advisors kritisiert die Vorruhestandsregelungen der Unternehmen. Die älteren Arbeitnehmer sollten „nicht aussortiert, sondern vielmehr stärker gefördert werden“, schreibt er in einem Gastbeitrag für The Pioneer.
Jerusalem schlägt den Firmen ein „Generationenmanagement“ vor. Ein Generationenvertrag sei entscheidend für den Wohlstand „auch in den Unternehmen“, sagt Jerusalem. Der Jüngere sei vielleicht physisch stärker, unbekümmerter und mutiger. Aber der Ältere sei der Erfahrene, der Komplexes auch anders beurteilen kann.
„Die wirtschaftlich erfolgreichen Unternehmen richten ihre Führungskonzepte auf Altersdiversität aus“, sagt der Berater. Sie fragten zum Beispiel: „Wo stehst du heute und was brauchst du, um dein Erfahrungswissen für morgen einzubringen?“ Sie ermöglichten flexible Arbeitszeitmodelle und stellten Budgets für Personalentwicklung zur Verfügung. „Sie geben der älteren Belegschaft Sitz und Stimme und haben dadurch eindeutig Wettbewerbsvorteile.“ Hier geht es zum Gastbeitrag.
Gleichwohl gibt es auch bei den Jüngeren erhebliches Potenzial. Mehr als 2,5 Millionen 20- bis 34-Jährige haben keine abgeschlossene Ausbildung. Das Bundesinstitut für Berufsbildung (BIBB) spricht von einem „historisch hohen Wert von 17 Prozent“.
Die Folgen liegen auf der Hand. Das BIBB warnt vor einer sich zuspitzenden Lage für Arbeitsmarkt und Sozialstaat. So verdienten Menschen ohne Abschluss deutlich weniger und seien häufiger von Arbeitslosigkeit bedroht. Lag die Arbeitslosenquote insgesamt 2022 im Jahresdurchschnitt bei 5,3 Prozent, waren es bei Ungelernten fast 20 Prozent.
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Aktuell klagen fast alle Handwerksberufe über hohe Abbrecherquoten. So bricht fast jeder zweite Lehrling seine Ausbildung zum Anlagenmechaniker für Sanitär-, Heizungs- und Klimatechnik (SHK) ab. Für den Einbau von Wärmepumpen ist dieser Job unverzichtbar. Andreas Koch-Martin ist Interessenvertreter des SHK-Handwerks in Berlin. Das Hauptproblem sei, dass „nur etwa 20 Prozent unserer Auszubildenden sagen, dass es ihr ausgesprochener Berufswunsch sei, SHK-Installateur zu werden“. Wer eigentlich einen anderen Berufswunsch habe, sei nur schwer zu überzeugen. „Bei manchen ist Hopfen und Malz verloren.“
Siegfried Russwurm, Präsident des Bundesverbands der Deutschen Industrie (BDI), sagte The Pioneer: „Wir haben viel zu viele junge Leute, die aus dem Ausbildungssystem heraustropfen und dann zumindest unter Wert arbeiten.“ Das seien viele einfache Tätigkeiten. „Die kann man auch automatisieren.“
Eine Infografik mit dem Titel: Generation ohne Zukunft
Anteil der 20- bis 34-Jährigen ohne abgeschlossene Berufsausbildung nach Bundesländern, in Prozent
#5 Arbeit outsourcen
Die georgische Hauptstadt Tiflis ist nur zwei Stunden von Deutschland zeitversetzt – und hat deshalb einen Vorteil gegenüber Indien. In beiden Ländern gibt es reichlich Programmierer, die ihre Dienste anbieten – und immer mehr für deutsche Mittelständler.
Die Osnabrücker Firma dev.house hat daraus ein Geschäftsmodell gemacht. Sie vermittelt Informatiker in Osteuropa, regelt die Verträge und moderiert bei Konflikten. Viele Coder kommen auch aus Russland und Belarus, weil sie wegen des Angriffskrieges gegen die Ukraine geflohen sind. Mit-Geschäftsführer David Hahn sagt: „Deutsche Konzerne würden gerne eigene IT-Mitarbeiter einsetzen. Aber sie kriegen nicht so viele und nicht mit den Fähigkeiten, die sie haben wollen.“ Und Mittelständlern fehlten ohnehin oft die Leute.
Das Geschäft boomt. Denn dev.house trifft damit einen Nerv. Unternehmen sourcen Arbeit ins nähere Ausland aus, weil sie die richtigen Leute in Deutschland nicht mehr bekommen. Hierzulande fehlen laut Digitalverband Bitkom 137.000 IT-Spezialisten. Am gefragtesten sind Softwareentwickler, gefolgt von Programmierern und Anwendungsbetreuern. Viele talentierte Entwickler sitzen in Osteuropa, wer sie kennt, hat einen Wettbewerbsvorteil.
Für die deutsche Wirtschaft sind outgesourcte IT-Projekte oft eine Alternative zum Fachkräftemangel. Der Markt wächst jedes Jahr zweistellig, bis 2028 rechnen Experten mit fast 40 Milliarden Euro Umsatz.
Die meisten Coder in Tiflis sprechen Englisch und sind international gut vernetzt. dev.house hat mit den selbstständigen Informatikern Verträge geschlossen, die auch den Datenschutz regeln. Für Mittelständler und Konzerne wäre es deutlich mühsamer, Verträge und Bezahlung eigenständig vor jedem neuen IT-Projekt auszuhandeln.
Fazit: Deutschland altert und der Fachkräftemangel ist real. Den Unternehmen fehlen Leistungsträger und Wegarbeiter. Aber Klagen darf nicht jeden Tag der Gruß des Kaufmanns bleiben. Deutschland hat es selbst in der Hand, Ausländer, Frauen, Ältere und Jüngere zu mobilisieren – und die Automatisierung in diesem Land von einer angeblichen Gefahr zu einem gewinnbringenden Nutzen umzudefinieren.
Das Potenzial ist gewaltig. Und dann gäbe es noch eine einfache Lösung gegen den Fachkräftemangel: mehr arbeiten. Laut Industrielobbyist Russwurm wären die Leistungsträger in diesem Land ganz einfach zu motivieren: Überstunden sollten nicht mit einem Spitzensteuersatz belegt werden, sondern deutlich geringer – „bis zur Null“.