die neue Regierung ist noch nicht gebildet, da werden von den Akteuren schon die ersten Jubelarien gesungen. Man genießt sich in vollen Zügen. Der selbst gepflückte Vorschusslorbeer ist das Gewürz der Saison.
„Das wird das größte Modernisierungsprojekt der letzten 100 Jahre“, sagt Scholz ohne jede Ironie. Zumindest in seinem Kopf hat er die Einführung der Sozialen Marktwirtschaft durch Ludwig Erhard, die Einrichtung einer gesetzlichen Rentenversicherung durch Konrad Adenauer, den Aufbau-Ost von Helmut Kohl und die Agenda 2010 seines Ziehvaters Gerhard Schröder damit aus dem Stand überboten. Das S im Parteinamen der SPD wird neuerdings mit Selbstbewusstsein übersetzt.
Die Politik der vorsätzlichen Selbstüberschätzung ist allerdings keine Erfindung von Olaf Scholz. Sie begann mit Angela Merkel, die ihr Tun als alternativlos empfand. Sie setzte sich im großspurigen Ökonomen-Wort von der V-Erholung fort, brachte die Aussage der EZB hervor, ihre Politik werde nicht zu Inflation führen, produzierte die Behauptung, die deutsche Volkswirtschaft sei bis 2030 CO2-frei und gipfelt in dem sozialdemokratischen Versprechen, die Einigung auf eine internationale Mindeststeuer bedeute den Tod der Steueroasen. „Der Steuerwettbewerb nach unten ist vorbei“, sagt Scholz.
Eine Infografik mit dem Titel: Steigender Ausstoß
Prognostizierte CO2-Emmissionen weltweit bis 2050, in Millionen Tonnen
So wird die Wirklichkeit fiktionalisiert und banalisiert. Wer halbwegs bei Troste ist, der weiß, dass es sich hier um politische Hochstapeleien handelt:
Die Vorhersage einer V-Erholung – schnell rein und schnell wieder raus aus der Krise – war nach einjähriger Unterbrechung aller Lieferketten nicht evidenzbasiert, sondern surreal.
Der Zusammenhang zwischen Geldflutung und Inflation ist jedem Sparkassenangestellten klar, nur der EZB und der Fed offenbar nicht.
Wer es wissen will, der weiß es: Die deutsche Industriegesellschaft wird im Jahr 2030 nicht CO2-frei sein können.
Eine Infografik mit dem Titel: 1,5 Grad: Übers Ziel hinaus
Jährlicher Mittelwert der globalen Temperatur relativ zum Mittelwert 1880-1910 sowie Trend seit 1970, in Grad Celsius
Die Steueroasen dürften auch die Einigung der Hochsteuerländer überleben.
Das größte Modernisierungsprojekt aller Zeiten – die von Olaf Scholz angeführte Dekarbonisierung der Volkswirtschaft – ist bislang nicht mehr als eine kühne Vision. Auf absehbare Zeit wird der Strom nicht nur teurer, sondern auch schmutziger.
Eine Infografik mit dem Titel: Schmutziger Strom
Im Inland produzierter und ins Netz eingespeister Strom in Deutschland nach Energieträger, in Prozent
Diese Halbwahrheiten – gerade wenn sie von bis dahin seriösen Ökonomen und Politikern verbreitet werden – sind gefährlicher als ganze Lügen, weil sie die Glaubwürdigkeit der bisherigen Autoritäten gefährden. Reale Sachverhalte werden übertrieben, umgedeutet und entsprechend den politischen Absichten kuratiert.
Derartige Halbwahrheiten führen zur Desorientierung und beeinträchtigen den Wirklichkeitssinn, wie Prof. Nicola Gess in ihrem Essay „Halbwahrheiten. Zur Manipulation von Wirklichkeit“ präzise belegt. Sie führen „vom Zwang der Tatsachen in die Willkür der Spekulation“ und benebeln auf diese Art unseren Orientierungssinn. Sie machen die Menschen anfällig für diejenigen, die in der Halbwelt von Fiktion und Fakten ihr Quartier aufgeschlagen haben.
© Universität HamburgSo öffnet sich jener postfaktische Raum, der zuerst von den Populisten rechts und links der Mitte bevölkert wurde. Die etablierten Parteien, so sie Wert auf ihre Seriosität legen, sollten diesen Raum meiden, weil die Verächter der Demokratie ihn längst als ihren Ballsaal benutzen. In diesem Ballsaal wird die Wahrheit immer ein Fremdling bleiben. Hier tanzen die politisch gewollten Narrative. Hier werden die Verschwörungsmärchen gesponnen. Die gesamte Choreografie zielt nicht auf Wahrhaftigkeit ab, sondern versucht Wirkungsmacht zu erlangen.
Max Weber hatte von den Politikern anderes erwartet, nämlich „die geschulte Rücksichtslosigkeit des Blickes in die Realitäten des Lebens“. Daraus wurde bei nicht wenigen die gezielte Rücksichtslosigkeit der Verschleierung von Realität.
Dabei sollte die Einhaltung der Genre-Grenze zwischen Tatsache und Spekulation, zwischen Wirklichkeit und Vision kein Hobby des Politikers sein, sondern die Voraussetzung für glaubwürdige Politik: „Die Politik kann die ihr eigene Integrität nur wahren, wenn sie die Grenzen, die diesem Vermögen gezogen sind, respektiert“, sagt Hannah Arendt.
Und weiter: Der ernstzunehmende, der demokratisch gesinnte Politiker sei der „Tatsachenwahrheit“ verpflichtet. Diese „Tatsachenwahrheit“ gebe dem öffentlichen Diskurs den Gegenstand vor und setze ihm zugleich seine Grenzen. Die große politische Philosophin hoffte:
Die Tatsacheninformation hält die Spekulation in Schranken.
Fazit: Heute wissen wir, dass diese Hoffnung nicht in Erfüllung ging. Der Aufstieg der Populisten hat auch diejenigen, die gegen diesen Aufstieg ankämpften, zur Übertreibung der Übertreibung animiert. Zumal die Berliner Hauptstadtpresse den Wahlgewinnern deren Selbstlob („die Fortschrittskoalition“) nicht vorhält, sondern von den Lippen abliest – in der Hoffnung, die opportunistische Anfangsinvestition werde sich in Gestalt eines späteren Interviews verzinsen.
Die Grünen wollen die Ampel-Koalition, und sie wollen das Finanzministerium besetzen. Die Spitzengrünen Annalena Baerbock und Robert Habeck haben den Rückhalt ihrer Partei jedenfalls sicher. Die Basis hat dem Sondierungspapier – trotz fehlenden Tempolimits – zugestimmt.
Unter den rund 70 Delegierten gab es nur zwei Nein-Stimmen und eine Enthaltung. Doch in die Freude über den Gestaltungsspielraum, den eine Ampel-Koalition in der Klima- und auch in der Gesellschaftspolitik den Grünen bietet, mischt sich Unmut über die Zugeständnisse in der Finanz- und Arbeitsmarktpolitik, wie unsere Pioneer-Kollegin Marina Kormbaki am Rande des Parteitags erfuhr. Hier ihr Bericht:
Die neuerliche Ambition von Friedrich Merz auf den Vorsitz der CDU ist beendet, bevor sie überhaupt offiziell ist.
Seine treuen Unterstützer aus den vergangenen beiden Runden verweigern ihm die Gefolgschaft: die Junge Union.
Seine Zeit als Spitzenkandidat sei abgelaufen, gab JU-Chef Tilman Kuban dem Aspiranten in einem Statement gegenüber den TV-Sendern RTL/ntv am Samstag zu verstehen:
Friedrich Merz ist ein kluger Kopf, der sicherlich auch als Berater und als Unterstützer mit dabei sein kann.
Die Union brauche jetzt „vor allem mehr junge, frische und unverbrauchte Köpfe in der Parteispitze“, sagte Kuban und betonte auf dem Treffen der Jungen Union den Willen zur Erneuerung in der Opposition:
Der Wiederaufbau beginnt jetzt.
Hinter den Kulissen setzt die JU auf ein Tandem aus dem Chef der Mittelstandsunion, Carsten Linnemann, und dem Gesundheitsminister Jens Spahn. Merz, 65 Jahre alt, könne nicht die Zukunft repräsentieren, heißt es.
Friedrich Merz selbst sieht das etwas anders. Zum Auftakt des Treffens hatte der Senior der Parteijugend seine Erfahrung mit einem etwas angestaubten Bonmot angedient:
Junge Besen kehren gut, aber die alte Bürste kennt die Ecken.
Dank Corona und Klimawandel wurde der Wissenschaft breites öffentliches Interesse zuteil. Gleichzeitig rückte sie in den Mittelpunkt einer Grundsatzdiskussion. Was ist die Rolle der Wissenschaft? Sind die Wissenschaftler, die sich täglich im Fernsehen präsentieren, zu aktivistisch? Läuft die Wissenschaft gar Gefahr, sich durch die Politik vereinnahmen zu lassen? Darüber spricht ThePioneer-Chefreporterin Alev Doğan im heutigen Morning Briefing-Podcast mit dem Physiker und Kabarettisten Vince Ebert. Seit mehr als 20 Jahren versucht er von der Bühne aus den Menschen die Wissenschaft auf eine humorvolle Weise zu erklären.
Der Diplomphysiker sagt, die Wissenschaft befinde sich in einer Krise:
Wenn Sie manche Klimaforscher in Talkshows hören, dann reden die wie politische Aktivisten. Das ist aber nicht ihre Aufgabe. Und ich finde, sie tun der Wissenschaft damit auch keinen Gefallen.
Die Vermischung von Politik und Wissenschaft führe dazu, dass Wissenschaftler nicht mehr alles sagen dürften:
In dem Moment, in dem ich mich öffentlich zur Realisierbarkeit der Energiewende äußere, werde ich von irgendwelchen Leuten als Klimaleugner diffamiert. Weil man diese Trennschärfe nicht mehr klar kommuniziert, kommt es zu solchen Vermischungen.
Dabei sei es Aufgabe der Wissenschaft, Zusammenhänge festzustellen und aufzuzeigen:
In der Wissenschaft geht es knallhart um Erkenntnisgewinn, auch wenn diese Erkenntnisse vielleicht nicht das gewünschte Ergebnis bringen.
Montag
Heute treffen sich die EU-Außenminister in Luxemburg. Thema wird unter anderem die Lage in Afghanistan, Äthiopien und Nicaragua sein.
Drei Frauen und drei Männer stehen im Finale: Mithu Sanyal, Monika Helfer und Antje Rávik Strubel; Norbert Gstrein, Christian Kracht und Thomas Kunst. Heute Abend wird der Gewinner des diesjährigen Deutschen Buchpreises feststehen.
© dpaDienstag
Netflix präsentiert seine Zahlen für das dritte Quartal. Analysten rechnen mit deutlich gesteigerten Abonnentenzahlen. Vor allem mit neuen Serien aus eigener Produktion – „Squid Game“ wurde seit Veröffentlichung vor knapp vier Wochen über 111 Millionen Mal geklickt – konnten die Kalifornier punkten.
Johnson & Johnson – der Hersteller des derzeit einzigen Corona-Vakzins mit nur einer nötigen Dosis – legt seinen Quartalsbericht vor.
Mittwoch
Auch Tesla gewährt Einblick in die Zahlen für das vergangene Quartal. Rekorde bei den Auslieferungen des Elektroautobauers konnten die Aktie zuletzt antreiben. Nun wartet man gespannt, welche Rolle diesmal der Emissionshandel bei der Gewinnerzielung spielte.
© dpaDie Frankfurter Buchmesse öffnet nach der digitalen Veranstaltung im vergangenen Jahr ihre Hallen für das Publikum. Das Ehrengastland Kanada präsentiert erstmals englische und französische Texte seiner indigenen Völker.
Donnerstag
SAP hatte vergangene Woche bereits mit vorläufigen Quartalszahlen für gute Stimmung an der Börse gesorgt. Nun kommt der finale und detaillierte Q3-Bericht. Die Investoren befinden sich in stiller Vorfreude.
© dpaFreitag
In Brüssel treffen sich die EU-Staats- und Regierungschefs. Der heikelste Punkt: Die steigenden Energiepreise. In vielen Ländern wird staatliches Eingreifen erwartet.
In Bezug auf die Steuerlast von Unternehmen und Bürgern ist Deutschland weiterhin nicht wettbewerbsfähig: Das belegt eine neue Untersuchung von 37 OECD-Staaten durch das Prometheus Freiheitsinstitut und die US-amerikanische Tax Foundation. Die Studie wird heute vorgestellt, sie liegt unserem Hauptstadt-Team bereits vor.
Demnach liegt Deutschland im Index der internationalen Steuerwettbewerbsfähigkeit auf dem 16. Platz von 37 Industrieländern. Damit schneidet das Land sogar noch schlechter ab als bei der letzten Untersuchung aus dem Vorjahr.
Zu den Schwächen des deutschen Steuersystems gehört den Autoren zufolge der Körperschaftsteuersatz für Unternehmen, der mit 29,9 Prozent zu den fünf höchsten Steuersätzen für Firmen in allen Industrieländern gehört.
Außerdem sei die Steuerbürokratie in Deutschland im internationalen Vergleich besonders hoch, heißt es in der Studie. Bei der Komplexität der individuellen Einkommensteuerberechnung belegt Deutschland Platz 33 von 37 OECD-Staaten.
Eine Infografik mit dem Titel: Enorme Unterschiede
Unternehmensteuersätze im weltweiten Vergleich 2021, in Prozent
Das digitale Niedrigsteuerland Estland ist übrigens Spitzenreiter der Steuer-Rangliste, aber auch die Schweiz, Tschechien, Schweden, die Niederlande, Finnland, die Slowakei und Ungarn liegen vor Deutschland. Auf dem letzten Platz landete Italien.
Details der Studie lesen Sie hier.
© imagoDie Geheimdienste der USA sind erneut überrascht: In China wurde eine atomwaffenfähige Hyperschallrakete getestet und das früher, als von den Amerikanern vermutet.
Eine Rakete dieses Typs kann mehr als fünffache Schallgeschwindigkeit erreichen, also rund 6.200 Kilometer pro Stunde. Mit dieser Geschwindigkeit soll das Flugobjekt Radar- und Abwehrsysteme durchbrechen können.
Doch akute Gefahr besteht keine: Die Rakete soll nach ihrem Start und einigen Erdumrundungen in niedriger Umlaufbahn ihr Ziel um rund 30 Kilometer verfehlt haben – statt im Weißen Haus wäre sie dann auf dem Billy Goat Trail gelandet, einem Wanderweg vor den Toren der Hauptstadt.
© dpaGerd Ruge war WDR-Journalist, Weltreisender und ein Mann, der das Vertrauen seines Publikums besaß. Jetzt ist er im Alter von 93 Jahren in München gestorben.
Ob in Washington, in Moskau oder auf einer seiner unzähligen Reisen: Der Fernseh-Reporter Ruge blieb Zeit seines Lebens ein Neugieriger. Er fragte mit einer kunstvollen Beiläufigkeit, die den Menschen das Herz öffnete und die Zunge löste. Sonst kennt man das nur von Kommissar Columbo.
Mit dem heutigen Aktivisten-TV, wo die Frage schon die Antwort mitliefert und die Gesinnung zuweilen die Neugier ersetzt, hatte er nichts gemein. Was im Umkehrschluss nicht bedeutet, dass Gerd Ruge der Gegenstand seiner Berichterstattung gleichgültig war.
© dpaAm 5. Juni 1968 erlebte er als Augenzeuge das Attentat auf den demokratischen Präsidentschaftskandidaten Robert Kennedy. Ruge rang vor Millionenpublikum um Fassung:
Sie werden mir verzeihen, dass ich das nicht so geschliffen erzählen kann, das ist alles noch wie ein Alptraum.
Mit ihm ist ein großer Kollege gegangen, der wichtig war, ohne sich wichtig zu nehmen. Er hat reportiert, nicht gegockelt. Er hat informiert und nicht indoktriniert. Er wird seinem Publikum und unserem Berufsstand sehr fehlen.
Ich wünsche Ihnen einen mitfühlenden Start in die neue Woche. Es grüßt Sie auf das Herzlichste
Ihr